Verdi lässt Kampfkraft liegen – aus Rücksicht gegenüber SPD-Kanzler
Die Streiks im öffentlichen Dienst prägen im besonderen Maße das soziale Klima im Land. Insofern hatte die Tarifauseinandersetzung, die die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi jüngst mit der „Tarifgemeinschaft deutscher Länder“ (TdL) ausfocht, eine besondere Bedeutung. Er gilt für rund 1,2 Millionen Angestellte und 1,3 Millionen verbeamtete Beschäftigte. Konnten die Kolleginnen und Kollegen die Einkommensverluste wieder gutmachen, die zwei Jahre Inflation gebracht haben? Claudia Müller, die als Krankenschwester in Münster arbeitet, bilanziert das Ergebnis des Arbeitskampfes.
Am 9. Dezember haben sich die Verhandlungsführer von Verdi und die Finanzminister der Bundesländer auf einen neuen Entgelttarifvertrag im öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) geeinigt. Bis zum 12. Januar wurden die betroffenen Verdi-Mitglieder zum Ergebnis befragt; zwei Drittel der abgegebenen Stimmen befürworteten die Annahme des Kompromisses.
Dieses Umfrageergebnis hört sich besser an, als es ist. Die Verdi-Bürokratie hat eine Frist von fünf Wochen zwischen Einigung und Abstimmung gesetzt, um sicher zu stellen, das am Ende eine mögliche Verärgerung über das Ergebnis ohne Wirkung verpufft. Eine Wiederaufnahme des Streiks ist nach solch einer Phase der Abkühlung praktisch unmöglich, und eine Zustimmung zum erzielten Kompromiss damit quasi ein Gebot der Solidarität gegenüber der eigenen Gewerkschaft.
Diese Absicherung des Apparates gegen möglicherweise aufkommenden Druck zur Fortsetzung des Kampfes war offenbar notwendig. Dies zeigt ein Blick auf die ernüchternden Details des erzielten Kompromisses.
Leermonate mit Tradition
Verdi und die mit ihr verbündeten Gewerkschaften wie die GEW forderten in der Tarifrunde ursprünglich 10,5 Prozent Gehaltserhöhung, mindestens aber 500 Euro monatlich mehr, als auch einen Tarifvertrag für alle studentischen Beschäftigten. Der Tarifvertrag soll ein Jahr laufen. Nichts davon ist auch nur annähernd erreicht worden.
Der am 9. Dezember erzielte Kompromiss sieht keinerlei Erhöhung des tabellarisch festgelegten Gehaltes in den ersten 11 Monaten vor. Erst ab November 2024 soll der monatliche Bruttolohn um einen Sockelbetrag von 200 Euro für alle erhöht werden, gefolgt von einer Lohnsteigerung über 5,5 % ab Februar 2025. Erst nach zwei Jahren, im November 2025, läuft der Vertrag dann aus und muss erneut verhandelt werden.
11 Monate ohne Lohnerhöhung – die Aushandlung solcher „Leermonate“ hat leider Tradition bei Verdi. Bereits 2021 ist der Arbeitgeber mit 14 ausgehandelten Nullmonaten aus den Verhandlungen gegangen – die Lohnerhöhung von mageren 2,8 % kam erst im Dezember 2022 zur Auszahlung. Die Entwicklung des Tabellenlohns blieb aufgrund der „Leermonate“ und der langen Laufzeit nicht nur deutlich hinter den eigenen Forderungen zurück. Sie konnte auch nicht annähernd die Inflation der letzten beiden Jahre ausgleichen.
Laut IMK-Inflationsmonitor sind die Verbraucherpreise in Deutschland im Verlauf des Jahres 2021 emporgeschnellt. Im Dezember 2021 erreichte die Inflationsrate mit 5,3 % ihren höchsten Stand seit Juni 1992. Bis Mai 2022 beschleunigte sich der Preisauftrieb und erreichte 7,9 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Ein Jahr später lag die Inflationsrate immer noch zwischen 6 und 7 %, wobei einkommensschwächere Familien aufgrund der überdurchschnittlichen Preissteigerungen für Energie und Nahrungsmittel überproportional betroffen waren.
Selbst wenn derzeit die Inflationsrate leicht zurückgeht – dies hebt nicht die Preissteigerungen der letzten Jahre auf. Mit anderen Worten: Verdi hat im Rahmen der Tarifrunden des TV-L für den Zeitraum 2021 bis 2025 eine Absenkung der Reallöhne in Kauf genommen.
Inflationsausgleichsgelder
Um das magere Ergebnis zu versüßen, wurde die zusätzliche Auszahlung eines steuerfreien Inflationsausgleichs von 3000 Euro etappenweise bis Oktober 2024 vereinbart. Diese Auszahlung beruht auf einer gesetzlichen Sonderregelung, die zahlreiche Arbeitgeber in den Tarifrunden des Jahres 2023 genutzt haben. Bis Ende 2024 ist die Zahlung eines Inflationsausgleichs bis 3000 Euro möglich. Der Nachteil: sie sind einmalig und nicht „tabellenwirksam“, erhöhen also nicht das Grundgehalt der Beschäftigten. Für die Arbeitgeber hingegen sind die Zugeständnisse billig, da auch sie keine Steuern und Abgaben auf die Inflationsausgleichgelder draufzahlen müssen.
Der Effekt: Durch die Auszahlung einer einmaligen Prämie kann den Beschäftigten für den Moment vorgegaukelt werden, es gäbe überhaupt keinen Reallohnverlust. Der stellt sich aufgrund des stagnierenden Grundgehalts erst mit einer gewissen Zeitverzögerung ein – bleibt aber dafür dauerhaft bestehen.
Viele Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern und anderen Bereichen, die vom TV-L abhängen, haben sich gegen dieses Betrugsmanöver ausgesprochen. Dennoch haben sich die Verdi-Verhandlungsführer darauf eingelassen.
Die tarifunwirksame Bonuszahlung ist ein Produkt der sogenannten Konzertierten Aktion von Unternehmen und Gewerkschaften und Teil des dritten Entlastungspakets der Bundesregierung unter SPD-Kanzler Scholz. Nach der Einigung im September 2022 betonte er, „dass die Tradition der Sozialpartnerschaft Deutschland schon durch viele Krisen geführt habe“. Die Inflationsprämie stelle sicher, dass Deutschland „gemeinsam an einem Strang“ ziehe.
Kampfkraft vergeudet, Unmut bleibt
Die Verzahnung der Gewerkschaftsapparate mit der SPD wirkt sich hier klar dämpfend zum Nachteil der Beschäftigten aus. Aus Rücksicht gegenüber Kanzler Scholz hat Verdi dankbar das Inflationsgeld angenommen und den Reallohnverlust akzeptiert, anstelle den Arbeitskampfes weiter zuzuspitzen.
Dabei waren die Kolleginnen und Kollegen kampfbereit wie lange nicht mehr. Ende November sind 20.000 Landesbeschäftigte, die an Bildungseinrichtungen arbeiten, dem bundesweiten Warnstreikaufruf der GEW zum „Streiktag Bildung“ gefolgt. In der ersten Dezemberwoche waren über 80.000 Kolleginnen und Kollegen von Verdi im Arbeitskampf. Die Zusammenführung und Ausweitung dieser Kämpfe hatte das Potenzial, die geschwächten Landesregierungen herauszufordern.
Auch die Mobilisierungsfähigkeit der studentischen Beschäftigten wurde liegen gelassen. Der Tarifvertrag für studentische Beschäftigte der Hochschulen (TV Stud) wurde nicht in den TV-L überführt. Einzig eine Vereinbarung wurde getroffen, die eine Vertragslaufzeit von 12 Monaten und einen Stundenlohn vorsieht, der knapp über dem Mindestlohn liegt.
Indessen: Der Unmut und die Kampfbereitschaft sind mit dem Deal nicht ausgeräumt worden. Streiks wie jene der GdL und Proteste wie jene der Bauern im Januar zeigen, wie angreifbar die Regierenden sind. Es kommt darauf an, an der Basis bei Verdi jene zu finden, die einen revolutionären Pol unabhängig von den Apparaten aufbauen wollen.