von Karl Naujoks
Die Bundesregierung und die Medien versuchen alles, um den Protest gegen das Massaker der israelischen Armee in Gaza von der Straße zu bekommen. Zahlreiche Veranstaltungen und Demonstrationen wurden verboten, in einer für die Bundesrepublik bislang einmaligen Repressionswelle.
Die Verbote gehen mit einer ideologischen Kampagne gegen die Palästina-Solidarität einher, der unisono „Antisemitismus“ vorgeworfen wird. Eine vehement vorgetragene moralische Denunzierung soll die Protestbewegung schwächen, spalten und schließlich zum Schweigen bringen.
Leider mit einem gewissen Erfolg. Viele haben Angst, auf die Straßen zu gehen. Viele Gruppen werden gespalten. Dies betrifft sogar Bündnisse und Initiativen, die sich mit ganz anderen Themen befassen. So hat die deutsche Sektion der Bewegung „Fridays for Future“ (FFF) erklärt, man wolle gemeinsame Kampagnen mit dem internationalen Netzwerk von FFF pausieren lassen – ausgerechnet ein paar Wochen vor dem nächsten Weltklimagipfel in Dubai. Alles nur, weil sich die Initiatorin der Bewegung, Greta Thunberg, in sozialen Netzwerken mit Palästina solidarisiert hat. Dies brachte ihr prompt den Vorwurf ein, „antisemitisch“ zu sein.
Die pauschale Austeilung des Antisemitismus-Vorwurfs ist nichts anderes als die ideologische Rechtfertigung für die Unterstützung der fortschreitenden ethnischen Säuberungen, der Dauerbombardements und der Aushungerung des palästinensischen Volkes durch die israelische Armee. Je größer die Verbrechen sind, umso ungeheuerlicher müssen die Vorwürfe sein, mit der das Vorgehen gerechtfertigt wird.
Kollektivschuldthese
„Antisemitismus“ ist nichts anderes als eine Form des Rassismus, der sich gegen die Juden richtet. Doch die Bundesregierung und die Medien erweitern den Begriff kurzerhand und verzerren dadurch seinen Inhalt bis zur Unkenntlichkeit.
In der neuen Lesart der Bundesregierung wird jede Kritik an Israel oder den Verbrechen der israelischen Armee als „antisemitisch“ diffamiert, die Solidaritätsdemonstrationen mit Palästina als „offen ausgelebter Judenhass“ denunziert. Wer da nicht mitzieht, habe die Lehren aus der deutschen Geschichte nicht gezogen.
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) hielt der antikolonialen Linke am 1. November in diesem Sinne eine Standpauke über die sozialen Medien. Er erklärte, Israels „Sicherheit“, sei „für uns als Staat notwendig“, also deutsche „Staatsräson“. Er begründete dies mit dem Satz: „Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollte.“
Habecks vermeintlich selbstkritische Distanz zur deutschen Geschichte ist in Wirklichkeit durch und durch nationalistisch. Er setzt die Nazis und ihre Organisationen mit allen Deutschen gleich. Nicht „die Generation unserer Großväter“ hat die Vergasung der jüdischen Bevölkerung gewollt und durchgeführt, sondern die SS. Schuldig an diesen Verbrechen sind die Funktionsträger des Nazistaates und all jene, die von ihm profitiert haben.
Die Vorstellung von einer Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Naziverbrechen verhöhnt jene Millionen, die Widerstand leisteten. Die NSDAP konnte sich zum Zeitpunkt, da Hitler Reichskanzler wurde, auf nicht mehr als 33,1 % der Stimmen stützen. Demgegenüber verfügten Sozialdemokraten und Kommunisten über 37,4 %.
Im Folgenden mussten die Nazis erst eine beispiellose Terrorkampagne lostreten, um Deutschland „gleichzuschalten“. Ihr Sieg war nur möglich, weil die Arbeiterbewegung untereinander zerstritten und zu keinem gemeinsamen Widerstand fähig war. Während die SPD auf den bürgerlichen Staat vertraute und die eigenen Anhänger auf die nächsten Wahlen vertröstete, bekämpfte die KPD die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“.
1920 scheiterte der rechte Kapp-Putsch noch an einem Generalstreik der Arbeiterklasse. 1933 erwarteten viele Gewerkschafter eine Wiederholung. Doch die Gewerkschaftsführungen ließen ihre Anhänger im Stich und wollten sich lieber mit Hitler arrangieren. Sie unterstützen sogar die Nazifeiern zum 1. Mai 1933. Am Tag darauf stürmte die SA zum Dank die Gewerkschaftshäuser und warf ihre Funktionäre in die KZs. Das System des Nationalsozialismus wurde nicht unter wohlwollendem Beifall der deutschen Bevölkerung etabliert, sondern erst nach einem Bürgerkrieg, der nur von einer Seite geführt wurde.
Zionismus
Hitler wird in der Kollektivschuldthese nachträglich zum tatsächlichen Führer einer eingebildeten deutschen Volksgemeinschaft hochstilisiert. Im Umkehrschluss wird in der Gleichung „Antizionismus gleich Antisemitismus“ der Staat Israel unkritisch als einzig legitimer Sprecher der jüdischen Bevölkerung weltweit akzeptiert. Doch bei weitem nicht alle Jüdinnen und Juden sind Zionisten. Der Zionismus entstand als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus in Europa vor 100 Jahren. Vor allem in den niedergehenden absolutistischen Monarchien Russlands und Österreich-Ungarns stachelten die Herrschenden aus Angst vor der sozialen Revolution die Armen gegen die Juden auf. Tausende starben in antijüdischen Hetzkampagnen, den Pogromen.
Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden, die gegen ihre Diskriminierung kämpften, strömte in sozialistische Parteien und machte den Kampf gegen den Kapitalismus zum Ausgangspunkt ihres Widerstandes. Der Zionismus gab hingegen den Kampf in Europa auf. Sein wichtigster Theoretiker, Theodor Herzl, erklärte 1896 den Kampf gegen den Antisemitismus für aussichtslos. Die Juden sollten sich lieber aus Europa zurückziehen und ihren eigenen Staat im Nahen Osten gründen.
Der Zionismus war niemals eine nationale Befreiungsbewegung. Stattdessen dienten sich seine Führer stets den führenden imperialistischen Mächten als Siedlerkolonialisten gegen die Araber im Nahen Osten an. 1936 unterstützten sie die in Palästina regierende britische Kolonialmacht bei der blutigen Niederschlagung eines Generalstreiks der arabischen Bevölkerung und bildeten eigene „Spezialnachteinheiten“. Aus diesen gingen Milizen hervor, die durch das Verbreiten von Terror die seit Jahrhunderten ansässige arabische Bevölkerung in Massen aus Palästina vertrieb.
Der spätere israelische Ministerpräsident Begin führte die Irgun-Miliz an, die im April 1948 im Dorf Deir Yassin ein Massaker an 300 Männern, Frauen und Kindern verübte. Begin selbst rühmte sich der „grenzenlosen Panik“, die die „Irgun-Metzelei“ den Arabern im ganzen Land eingeflößt habe. Der Staat Israel entstand auf der Basis dessen, was heute verharmlosend als „ethnische Säuberung“ bezeichnet.
Imperialismus
Israel konnte das eigene Territorium im Laufe der Jahrzehnte auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung immer weiter ausdehnen, da der Staat die uneingeschränkte politische, finanzielle und militärische Unterstützung der Vormacht USA und deren Verbündeten wie Deutschland genießt. Mitten in einer Region, wo verarmte arabische Massen korrumpierte Diktatoren bedrohen, ist Israel der einzig zuverlässige Verbündete, um dem Westen geopolitischen Einfluss und Zugriff auf die Bodenschätze des Nahen Ostens zu garantieren.
Der Widerstand in Palästina ist Teil des Kampfes gegen den Imperialismus, der die ganze Region in den letzten Jahrzehnten mit immer neuen Kriegen überzogen hat. Er inspiriert weltweit den Widerstand gegen jede Form rassistisch motivierter Unterdrückung. Der Kampf gegen Antisemitismus und die Solidarität mit Palästina sind daher keine Gegensätze, sondern gehen – auch in Deutschland – Hand in Hand.