Wer Veränderungen will, soll eine Partei wählen, die seine Interessen vertritt – so die gängige Meinung. Bloß haben die bislang 24 Bundesregierungen immer nur Politik für die Reichen und Mächtigen gemacht, nicht für uns. Wie kommt das und wie können wir es ändern, fragt unser Autor Karsten Schmitz
Als der Kapitalismus im 19. Jahrhundert entstand, war die herrschende Klasse gegen Alles, was auch nur im Entferntesten nach Demokratie roch. Sie sah die Gefahr, dass die Ausgebeuteten sich für eine andere Sozialordnung als den Kapitalismus entscheiden. Deshalb bekamen zunächst nur die Männer des reichen Bürgertums das Wahlrecht. Oder ihre Stimmen wurden höher gewertet als die anderer – so etwa im ›Dreiklassen-Wahlrecht‹, das von 1850 bis 1918 für die Wahl des preußischen Landtags galt.
Es bedurfte der Revolution von 1918, um das gleiche Wahlrecht für alle in Deutschland durchzusetzen. Es ist heute in den meisten westlichen Ländern eine Selbstverständlichkeit. Doch der Kapitalismus hat das bis heute unbeschadet überstanden. Wie kommt das?
Parlamentarismus und Demokratie
Zunächst gilt festzuhalten, dass Parlamentarismus und Demokratie zwei unterschiedliche Dinge sind. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren können wir etwa 16 Mal den Bundestag wählen. Die wenigen Minuten, die wir dafür brauchen, haben wenig Einfluss auf den Rest unserer Lebens- und Arbeitszeit, über die wir kaum Macht haben und in denen wirtschaftliche Zwänge und Vorgesetzte unser Leben bestimmen.
Die Leute, die maßgeblich über unser Leben entscheiden, können wir nicht wählen. Dazu gehören zum Beispiel die mehr als 32 000 Schuldirektorinnen und -direktoren. Ebenso wenig haben wir Einfluss auf die Auswahl der rund 200 Generäle, die in der Bundeswehr das Sagen haben. Genauso wenig wählen wir die 290 000 Polizeibeamtinnen und -beamte, die über 20 000 Richterinnen und Richter oder die 6500 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Und schon gar nicht die Chefs großer Konzerne und kleinerer Unternehmen, die uns acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche herumscheuchen. Alle diese Leute leben – ob in Form von Steuern oder von Profiten – von der Ausbeutung unserer Arbeitskraft.
Und sie bestimmen über uns, nicht wir über sie. Gewählt wird üblicherweise nur einmal in vier Jahren. Dazwischen sind die Abgeordneten laut Grundgesetz-Artikel 38.1 »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen«. Mit anderen Worten: Egal, was sie im Wahlkampf versprochen haben: Sie können hinterher machen, was sie wollen, ohne eine Absetzung befürchten zu müssen.
Bundestagsabgeordnete sind vom Leben eines Durchschnittsmenschen abgekoppelt. Sie verdienen derzeit monatlich 11 227,20 Euro an ›Diäten‹ und verkehren mit den Lobbyisten der herrschenden Klasse – insbesondere jene Abgeordnete, deren Fraktionen die Regierung bilden.
Illusionen des Reformismus
Wir wählen mit unserer Stimme nur die Legislative, die gesetzgebende Gewalt. Viele Sozialistinnen und Sozialisten haben geglaubt, den Kapitalismus überwinden zu können, wenn sie die Mehrheit gewinnen und dann die notwendigen Gesetze erlassen. In der SPD entwickelte sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Idee, den Kapitalismus zum Sozialismus reformieren zu können.
Aus drei Gründen muss dieser ›Reformismus‹ scheitern. Erstens kapselt sich das Parlament von der Gesellschaft ab und damit auch von jeder Massenbewegung, die in ihr entsteht. Zweitens bleibt die wirtschaftliche Macht in den Händen der Kapitalisten. Drittens ist der Staatsapparat nicht ›neutral‹ oder ›unparteiisch‹, sondern von der obersten bis zur untersten Ebene darauf ausgerichtet, das bestehende kapitalistische System zu erhalten.
Der Reformismus hat eine ganze Schicht von Hauptamtlichen hervorgebracht, die argumentiert haben: Wenn wir das System nicht stürzen können, werden wir es aber mindestens besser machen. Im Juni 1931 brachte es der Reichstagsabgeordnete und Gewerkschaftssekretär Fritz Tarnow auf den Punkt: »am Krankenlager des Kapitalismus« müsse die Sozialdemokratie der »Arzt, der heilen will«, sein.
Denn wenn die Profite in den Keller gehen, fangen die reformistischen Abgeordneten an, dem Kapitalismus auf die Beine zu helfen, indem sie ihrer Wählerschaft Einbußen und Sozialkürzungen schmackhaft machen wollen. Alles in der Hoffnung, der Kapitalismus käme so in den nächsten Aufschwung. Das erklärt, warum sozialdemokratische Abgeordnete sich in der Praxis immer weniger von ihren konservativen und liberalen Kollegen unterscheiden lassen – jedenfalls, wenn sie an der Regierung sind.
Die Orientierung auf parlamentarische Wahlen dient dazu, in zugespitzten Kämpfen Alternativen der ›Abkühlung‹ zum Klassenkampf anzubieten. Wenn sich eine Regierung durch Massenstreiks in die Knie gezwungen sieht, werden reformistische Parteien auf die nächsten Bundestagswahlen verweisen, da könne die strittige Frage demokratisch entschieden werden – in der Hoffnung, dass der Streik bis dahin längst erledigt und mit ihm das Selbstvertrauen und die Einheit der Arbeitenden verflogen ist.
Die Macht der Wirtschaft
Auch der Glaube, Unternehmerinnen und Unternehmer würden sich neu beschlossenen Gesetzen unterordnen, die ihnen nicht schmecken, hat sich als Illusion herausgestellt. Sie haben die Macht, jede Regierung unter Druck zu setzen. Als 1981 in Frankreich unter François Mitterand eine Koalitionsregierung mit der Kommunistischen Partei die Wahlen gewann, begann das Kapital aus dem Land zu fliehen und die Währung unter Druck zu setzen. Am Ende gab Mitterrand den Forderungen der Unternehmer nach. Als Oskar Lafontaine 1998/99 als Wirtschafts- und Finanzminister eine moderate Unternehmenssteuer beibehalten wollte, rebellierten die Kapitalisten, bis Kanzler Schröder seinen Minister absägte.
Ganze Industriezweige können durch ›Unternehmerstreiks‹ lahmgelegt, die Preise absichtlich durch Horten von Gütern in schwindelerregende Höhen getrieben werden. All das ist schon passiert. Aber normalerweise reicht schon die ganz normale Abhängigkeit von Investitionen, die allein Arbeitsplätze und Steuereinnahmen im Kapitalismus garantieren.
Deshalb mäßigen auch linke Abgeordnete ihre Forderungen schon von vornherein und scheuen mit Blick auf den ›Standort‹ üblicherweise scharfe Auseinandersetzungen. Mit der Angst vor Abwanderung von Kapital können Reformbestrebungen schnell im Keim erstickt werden. Aber um im ›Standortwettbewerb‹ Unternehmen anzulocken, werden schnell große Summen bereitgestellt. Die gescheiterte Ampelregierung ist das beste Bespiel für so eine Politik.
Der Staatsapparat
Aber es gibt auch ›gesetzliche‹ Möglichkeiten, die Pläne einer linken Regierung zu durchkreuzen. So hatte Die Linke in der Berliner Landesregierung im Januar 2020 einen Mietendeckel durchgesetzt, der die Profite der Immobilienbesitzer beschneidet. Daraufhin klagten CDU und FDP vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Das lehnte die gesetzliche Festsetzung von Mietobergrenzen mit einer fadenscheinigen Begründung ab. Die Linkspartei in Berlin war damit schon ausgezählt. Anstatt weiter zu mobilisieren, akzeptierte sie den Urteilsspruch.
Das zeigt: Zu einer grundsätzlichen Veränderung können wir nur kommen, wenn es zu einem revolutionären Sturz der Institutionen des bürgerlichen Staates kommt.
Die bewaffneten Organe zeigen das besonders eindringlich. Natürlich sind die Generäle theoretisch an die Weisungen und Beschlüsse von Parlament und Regierung gebunden. Aber die Soldaten werden darauf trainiert, ihren Generälen zu gehorchen, nicht den Politikern. Würden sich die Generäle weigern, Regierungsbeschlüsse umzusetzen, wäre die Regierung erst einmal machtlos.
In zugespitzten Situationen, wenn es um die Macht im Staate geht, hat sich das immer wieder gezeigt.
Als 1920 in Berlin einige rechte Truppenteile unter General Kapp einen Putschversuch gegen die sozialdemokratische Regierung unternahmen, rief die die Führung der Reichswehr zur Hilfe, um den Staatsstreich niederzuschlagen. Der Oberbefehlshaber der Reichswehr von Seeckt sagte nur: »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr«. Der Putsch musste schließlich von einem Generalstreik zum Scheitern gebracht werden; der Parlamentarismus half da wenig. Und die linke Reformregierung Chiles unter Salvador Allende wurde 1973 durch einen blutigen Militärputsch beseitigt und durch eine Diktatur ersetzt.
Ein Putsch gegen eine linke Regierung kann sich heute wiederholen, weil die Armee noch immer nach den gleichen Prinzipien des blinden Gehorsams aufgebaut ist und noch immer der gleiche reaktionäre Korpsgeist in der führenden Generalität herrscht.
Der einzige Weg
Die Sozialistin Rosa Luxemburg hat argumentiert, dass der Reformismus nicht nur einen anderen Weg wählt, sondern auch ein anderes Ziel als die Revolutionäre ansteuert. Sie behielt Recht. Als 1918/19 in Deutschland die Revolution ausbrach, stellte sich die Sozialdemokratie auf Seiten der Rechten, die die Revolution im Blut ertränken wollten.
Wahlen sind wichtig, weil viele Menschen an die Macht der Wahlen glauben, auch wenn sie von den bestehenden Parteien enttäuscht sind. Insofern müssen wir uns konkret zu den jeweiligen Wahlen verhalten. Immer, wenn es möglich ist, genug Stimmen für eine erfolgreiche Kandidatur zu gewinnen, sollten Revolutionäre sich selbst aufzustellen. Doch nicht in der Illusion, das Parlament zur Veränderung der Gesellschaft zu nutzen. Sondern als Bühne, um die gesellschaftlichen Kämpfe von dort aus zu unterstützen und nach vorn zu treiben.
Der Kapitalismus kann nur auf revolutionärem Weg, durch kollektive Kämpfe der Lohnabhängigen gestürzt werden. Kein Rassist oder Sexist geht in eine Wahlkabine hinein und kommt als glühender Verfechter der Gleichberechtigung wieder heraus. Aber in Kämpfen verändern sich die Menschen und entwickeln die notwendige Macht und praktizieren die Solidarität, die nötig ist, um sich nicht spalten zu lassen.
Und sie lernen, sich zu organisieren und basisdemokratische Organe aufzubauen, die sich in Hochzeiten des Kampfes zu Räten entwickeln können, die die Herrschaft des Kapitalismus abzulösen vermögen.
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