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Sozialisten und nationale Befreiungsbewegungen

Palästina & Israel / Theorie & Geschichte / 7. April 2024

Wie soll man mit Bewegungen umgehen, die für nationale Selbstbestimmung kämpfen? Eine mögliche Vorgehensweise wäre, sie als unnötigen Schnickschnack abzutun, der den Lohnabhängigen in den unterdrückten Nationen nur die Einsicht in die Notwendigkeit verstellt, über kurz oder lang die eigene herrschende Klasse stürzen zu müssen. Eine andere Möglichkeit wäre, sie zu unterstützen, weil sie den Imperialismus weltweit schwächen.

Das richtige Handeln liegt – wie so oft – zwischen diesen beiden Extrempositionen. Natürlich müssen wir den Imperialismus auf globaler Ebene schwächen, denn er hetzt ganze Völker gegeneinander auf, führt zu massenhafter Verelendung, Hungerkatastrophen und Kriegen. Aber genauso selbstverständlich muss die Arbeiterklasse der unterdrückten Länder sich früher oder später dem Sturz der eigenen Herrschenden widmen, von denen sie ebenfalls ausgebeutet und unterdrückt wird.

Natürlich funktionieren Nationalstaaten im Interesse der Kapitalisten – sie garantieren ihnen einen Binnenmarkt und einen schlagkräftigen Staatsapparat, der ihre Interessen nach innen mit Polizei und Justiz gegen die ausgebeuteten Lohnabhängigen und nach außen diplomatisch wie militärisch gegen rivalisierende Kapitalisten und andere Nationalstaaten durchsetzen kann.

Trotzdem unterstützten Marx und Engels die nationale Unabhängigkeit Polens von Russland und die Irlands von Großbritannien. Allerdings beurteilten sie nationale Befreiungsbewegungen nach ihrer Rolle im damaligen Weltgefüge – ob sie reaktionäre Reiche wie das zaristische Russland schwäch- ten, ob ihr Kampf die Erringung demokratischer Rechte förderte und ob sie eine industrielle Entwicklung begünstigten, die allen Menschen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse ermöglichen konnte.

Sozialisten wollen eine international solidarische Gesellschaft aufbauen, aber sie treten für eine freiwillige Einheit ein und erzwingen sie nicht. Und freiwillige Einheit beinhaltet das Recht auf Loslösung. Nationale Unterdrückung schafft eine Spaltung zwischen der Arbeiterklasse der Unterdrückernation und der Arbeiterklasse der unterdrückten Nation. Diese Spaltung kann nur überwunden werden, wenn die Arbeiterklasse der Unterdrückernation für die Selbstbestimmung der unterdrückten Nation kämpft.

Gleichzeitig schnürt die nationale Unterdrückung ein ideologisches Band, das die herrschende Klasse und die Arbeiterklasse sowohl im Unterdrückerland als auch im unterdrückten Land miteinander verbindet. Aus diesen Fesseln lässt sich nur entkommen, wenn sich die Arbeiterklasse gegen jede nationale Unterdrückung wendet, insbesondere wenn sie von ›ihrem‹ Staat ausgeübt wird. Der Widerstand gegen nationale Unterdrückung ist daher ein wesentlicher Bestandteil allen echten Internationalismus.

Mit dem Aufstieg des Imperialismus wurde diese Frage zum zentralen Thema der sozialistischen Taktik. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte eine Handvoll fortgeschrittener kapitalistischer Länder den größten Teil Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu ihren Kolonien oder Halbkolonien gemacht. Zu dieser Zeit unterstützte ein Großteil der europäischen sozialistischen Bewegung diese Entwicklung entweder offen oder nahm sie bestenfalls passiv hin. Es war Lenin, der erkannte, dass der Imperialismus unweigerlich zu nationalen Befreiungskämpfen führen würde, und der argumentierte, dass die Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder ein Bündnis mit den nationalen Befreiungsbewegungen gegen die imperialistischen herrschenden Klassen eingehen müsse.

Heute hat sich das Wesen des Imperialismus etwas verändert, und in den meisten Fällen wurde den Kolonien die formale Unabhängigkeit gewährt, während der Druck des Weltmarktes dafür sorgt, dass ihre wirtschaftliche Ausbeutung fortbesteht. Die nationalen Befreiungskämpfe gehören jedoch keineswegs der Vergangenheit an. In Nordirland und Kurdistan, in Südamerika und Palästina geht der Kampf gegen die nationale Unterdrückung weiter, unabhängig davon, ob diese Unterdrückung durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien, China oder Israel ausgeübt wird. In all diesen Fällen unterstützen Marxisten die Freiheitskämpfer ohne Vorbehalte.

Aber auch wenn wir keine Bedingungen für unsere Solidarität stellen, ist sie nicht unkritisch. Auch bedeutet die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen nicht, dass man ihre Bedeutung überschätzt. Die Erlangung der nationalen Unabhängigkeit ist eigentlich eine bürgerlich-demokratische und keine sozialistische Aufgabe, und eine nationale Befreiung kann auch nicht zur sozialistischen Revolution werden, wenn sie nicht von der Arbeiterklasse angeführt wird.

Das ist besonders wichtig, weil es seit 1945 eine Reihe von nationalen Befreiungskämpfen gegeben hat, die von bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kräften angeführt worden sind, die sich selbst als ›kommunistisch‹ bezeichnet haben. China, Kuba, Vietnam, Angola, Mosambik, Simbabwe sind nur einige der wichtigsten Beispiele.

In keinem dieser Fälle ist die Arbeiterklasse tatsächlich an die Macht gekommen, dennoch haben viele Linke versucht, diese antiimperialistischen Bewegungen an die Stelle des Kampfes der Arbeiterklasse sowohl in den fortgeschrittenen Ländern als auch in der Dritten Welt selbst zu setzen. Ihre Haltung hat wiederholt zu Enttäuschungen geführt, da keine dieser Regime die Hoffnungen erfüllt hat, die in sie gesetzt worden sind.

Marxisten lehnen zwar alle Formen nationaler Unterdrückung ab und unterstützen den Kampf für nationale Befreiung, aber sie tun das als Internationalisten und nicht als Nationalisten. Wir verschmelzen nicht mit dem bürgerlichen Nationalismus oder lassen unsere Kritik an seinen Beschränkungen fallen. Stattdessen bemühen wir uns, die Arbeiterklasse sowohl als Führer der nationalen Revolution als auch als Teil der internationalen Revolution zu aktivieren – der einzigen Kraft, die wirklich eine Befreiung von Kapitalismus und Imperialismus bringen und die Menschheit vereinen kann.

Bedingungslose, aber kritische Unterstützung

Welche Haltung sollten Marxisten zur Hamas einnehmen, der größten palästinensischen Widerstandsorganisation gegen den israelischen Apartheidsstaat? Die Antwort ist klar: Zunächst verteidigen wir die Hamas ohne Einschränkung und ohne Bedingungen zu stellen gegen das rassistische und kolonialistische israelische Regime. Wir verteidigen ihr Recht, zu den Waffen zu greifen, um sich gegen den Unterdrückerstaat zu wehren, fordern die Freilassung der politischen Gefangenen aus israelischer Haft und begrüßen ihren Wagemut wie ihre Erfolge. Gleichzeitig kritisieren wir die politische Linie und Praxis der Hamas – ihre konservativen bis reaktionären Gesellschaftsvorstellungen und ihre Berufung auf Gott. Wir kritisieren ihren Glauben an ein klassen- übergreifendes Bündnis aller Muslime und ihre Vernachlässigung der Rolle der arabischen Arbeiterklasse. Diese Fehler führen zur Bereitschaft, mit den Vertretern des israelischen Kapitals und dem westlichen Imperialismus zu verhandeln und ihnen Zugeständnisse zu machen. So bezeichnete ein Strategiepapier der Hamas vom Mai 2017 eine Zwei-Staaten-Lösung mit einem Palästina »in den Grenzen von 1967« bereits als »Konsens«.

Auch Erfahrungen in anderen Regionen der Welt haben gezeigt, dass höchstens die Mittelschicht des unterdrückten Volks aus solchen Verhandlungen Kapital schlagen kann, während Arbeiter meist abgehängt werden.

Viele Menschen scheinen zu denken, Kritik und Unterstützung schlössen sich gegenseitig aus. Konservative lehnen die Solidarität mit Bewegungen ab, deren Aktionsformen (wie etwa Sprengstoffattentate) sie missbilligen. Aus der linksradikalen Ecke hört man manchmal, man dürfe nationale Befreiungsbewegungen überhaupt nicht unterstützen, weil es zwischen ihnen und dem Marxismus erhebliche Differenzen gibt. Ein anderer Teil der Linken mag finden, man habe nicht das geringste Recht, diese Bewegungen zu kritisieren, weil sie und ihre Führer enormen Mut und hohe Opferbereitschaft an den Tag legen. All diese Einwände sind nicht stichhaltig.

Die Position der Konservativen muss bekämpft werden, weil Bewegungen und Kämpfe nicht vorrangig nach ihren Aktionsformen beurteilt werden sollten, sondern nach den gesellschaftlichen Kräften, die sie verkörpern. Eine Bewegung von Unterdrückten auf der Grundlage ihrer noch so falschen Taktik zu verurteilen, bedeutet, dem Unterdrücker stillschweigend oder offen den Rücken zu stärken. Der ultralinke Standpunkt ist falsch, weil man objektiv dieselbe Position bezieht wie die Konservativen, verweigert man nationalen Befreiungskämpfen die Solidarität – wenn auch aus anderen Beweggründen. So schadet man nur sich selbst.

Im Klassenkampf gibt es keine Neutralität. Marxisten sind sowohl Teil der Arbeiterklasse als auch Teil der Unterdrückten sowie Teil der Linken. Ihre Siege sind unsere Siege und ihre Niederlagen unsere Niederlagen, unabhängig davon, wer sie anführt oder welche Taktiken sie verfolgen.

Die Haltung, nationale Befreiungsbewegungen kritiklos zu unterstützen, ist ebenso falsch. Opferbereitschaft und Heldenmut gebührt sicherlich Anerkennung, aber sie sind keine Gewähr für eine erfolgversprechende Taktik oder eine politische Linie, die die Interessen der Arbeiterklasse verkörpert. Die Irisch-Republikanische Armee (IRA) hat beherzt gekämpft, aber ihre Strategie konnte die britischen Besatzer nicht besiegen. 1978 haben die iranischen Massen dem brutalen Unterdrückungsapparat des Schah getrotzt, nur um 1979 die ›Islamische Republik‹, eine theokratische Diktatur, zu installieren. Wer die Kritik aufgibt, gibt die marxistischen Überzeugungen auf und damit auch die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse.

Die ›bedingungslose, aber kritische Unterstützung‹ ist entscheidend für unsere gesamte politische Arbeit, auch im Klassenkampf hier. Wir verteidigen den GdL-Sekretär Claus Weselsky gegen die Angriffe der Medien und der Regierung, aber wir kritisieren auch seine Rolle als Gewerkschaftsbürokrat, wenn es sein muss.

Kombinieren Marxisten Unterstützung und Kritik nicht miteinander, verurteilen sie sich selbst zu starrem Sektierertum oder stumpfem Opportunismus.











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