Wenn in Politik oder Medien von „Imperialismus“ die Rede ist, dann ist damit in der Regel nur der Aggressor auf der anderen Seite gemeint. Putins Russland führe einen Angriffskrieg, will so sein Territorium erweitern und die Ukraine beherrschen. Ergo ist Putin ein „Imperialist“. Das stimmt. Doch es ist nur die halbe Wahrheit, meint Karl Naujoks.
Bundesregierung und Medien sprechen nie vom Ukrainekrieg, sondern stets vom russischen „Angriffskrieg“. Das ist kein Zufall, sondern Teil der Propaganda. Denn damit liefern sie gleich eine Deutung über den Charakter des Krieges mit: Jede Waffe an die Ukraine, jeder Eskalationsschritt der NATO sei nur ein Akt der Verteidigung – und damit gerechtfertigt.
Bis in die jüngste Vergangenheit nahmen es die Bundesregierungen und die deutschen Medien mit der Frage nach Angriff und Verteidigung allerdings nicht so genau. 1991 griffen die USA und ihre Verbündeten den Irak an, und dann erneut 2003. Es folgte die Bombardierung vieler irakischer Städte und die militärische Besetzung des Landes. Die USA setzten erst einen amerikanischen Hochkommissar ein, und installierten dann ein politisches System nach ihren Gutdünken.
Doch nie hieß es damals aus Bundesregierung oder Medien, der Irak habe ein Recht auf Verteidigung, oder dass der US-Imperialismus am Werk sei. Der Krieg wurde stattdessen mit selbstlosen Zielen gerechtfertigt, wie die Zerstörung irakischer Massenvernichtungswaffen – die nie gefunden wurden.
Konkurrierende Nationalstaaten
Die Herrschenden aller Länder verurteilen den jeweiligen Gegner als „imperialistisch“, um die eigenen Interessen und Aggressionen zu verschleiern. Tatsächlich ist der Imperialismus der einen nur durch den Imperialismus der anderen zu verstehen.
Der russische Revolutionär Lenin hat dies vor über hundert Jahren in dem kleinen Buch „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ erklärt. Er schreibt darin, dass der damals ausgebrochene Weltkrieg nicht das Ergebnis von Fehlentscheidungen oder den Handlungen nur einer Seite war. Vielmehr sei der Weltkrieg Ergebnis des Imperialismus als eines Systems konkurrierender kapitalistischer Nationalstaaten.
Seit der Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhundert begann, die Welt zu durchdringen, lieferten sich einige wenige Großmächte einen Wettkampf um Einflusssphären auf dem gesamten Globus.
Der Imperialismus besteht dabei nicht neben der „friedlichen“ wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen den Unternehmen. Vielmehr erwächst der Imperialismus aus der Konkurrenz der Unternehmen auf dem freien Markt.
So, wie ein Unternehmen auf dem Markt mit anderen über den Preis konkurriert, so rivalisieren die kapitalistischen Nationalstaaten um Einfluss, Rohstoffe, Märkte und Anlagemöglichkeiten mit den Mitteln, die den Staaten zur Verfügung stehen. Sie schützen „ihre“ Unternehmen und deren Binnenabsatzmärkte mit Gesetzen und Normen, Schutzzöllen und Subventionen.
Zugleich unterstützen die Staaten die Unternehmen der eigenen Nation bei der Ausdehnung auf die Märkte der anderen Staaten. Nach innen rechtfertigen sie Protektionismus, nach außen fordern sie Freihandel ein.
Dieser Widerspruch erzeugt unvermeidlich politische Spannungen zwischen den Staaten. Diese führen zu erst zu einem Rüstungswettlauf, das heißt zur Androhung von Gewalt. Ab irgendeinem Punkt schlägt diese Androhung in die Anwendung von Gewalt um – ein Krieg bricht aus.
Ökonomische Rivalität zerreißt die Ukraine
Der Konflikt in der Ukraine verdeutlicht diesen Mechanismus.
Zu den ersten militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine kam es 2014. Der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch musste sich entscheiden, ob er ein Assoziierungsabkommen mit der EU oder ein Abkommen mit Russland zur Bildung einer Eurasischen Wirtschaftsunion unterzeichnet.
Beide Abkommen schlossen sich gegenseitig aus. Dies hat enorme Spannungen in der wirtschaftlich ruinierten Ukraine erzeugt.
Janukowitsch wollte erst mit der EU ins Geschäft kommen, schwenkte dann aber um zum Kreml. Er wurde durch eine Revolution gestürzt. Seine inner-ukrainischen Konkurrenten nutzten das Machtvakuum und installierten ein prowestliches Regime. So sah sich die russische herrschende Klasse zunehmend aus der Ukraine herausgedrängt.
Das war der Umschlagpunkt in einem langen schwelenden Konflikt zwischen Westen und Russland. Putin reagierte mit Waffengewalt, annektierte die Krim und unterstützte prorussische Sezessionisten. Die ökonomische Rivalität zwischen West und Ost kollidierte auf dem Territorium der Ukraine, zerriss das Land und schlug schließlich in einen militärischen Konflikt um.
Heute ringen die Herrschenden Russlands und des Westens um die politische Kontrolle über die Ukraine und ihre Reichtümer. Es ist ein imperialistischer Krieg von beiden Seiten. Die einfachen Menschen in der Ukraine haben nichts davon. Sie zahlen den Preis für diesen Kampf um Einfluss und Macht – ganz gleich, welcher Imperialist den Konflikt für sich entscheidet.
Vom Preiskampf zum Handelskrieg
Solange die Weltwirtschaft wächst und gedeiht, blühen die Illusionen, dass die Unternehmen sich friedlich und fair um Anteile auf den internationalen Märkten streiten können. Zwang und Gewalt spielen dann eine zunehmende Rolle, wenn die Wirtschaft in die Krise kommt.
Dies zeigt sich aktuell an solch einem harmlosen Thema wie den erneuerbaren Energien und den E-Autos.
In China haben hohe Produktionskapazitäten in diesen und anderen Branchen zu Überproduktion und Preisverfall geführt. Wegen der schwachen Nachfrage auf dem Heimatmarkt drängen chinesische Unternehmen auf die Weltmärkte. Doch die USA sind nicht bereit, als Absatzmarkt für diese Produkte zu dienen. Ende Mai verkündete das Weiße Haus in Washington nun einen massiven Anstieg der US-Zölle auf Produkte aus China, darunter E-Autos, Halbleiter, Solarzellen, Batterien und Hafenkräne. Allein auf E-Autos werden die Zölle von 25 Prozent auf mehr als 100 Prozent angehoben.
Amerikas Abschottungspolitik gegenüber China setzt wiederum die EU unter Zugzwang. Ökonomen und Wirtschaftsvertreter warnen vor einem „China-Schock“ für europäische Unternehmen, da nun chinesische Produkte statt in den USA nun noch billiger in der EU angeboten werden. Bedroht seien vor allem der Maschinenbau, die Hersteller von Windturbinen und die Autoindustrie.
Dies verstärkt den Druck auf die EU-Kommission, den europäischen Markt ebenfalls zu schützen. Sie startete Untersuchungen zu chinesischen Subventionen in verschiedenen Sektoren und verhängte daraufhin Strafzölle auf die Einfuhr von chinesischen E-Autos in Höhe von bis zu 38,1 %. Peking reagierte prompt und drohte seinerseits mit Vergeltung.
Vom Handelskrieg zum Krieg
Dieser sich zuspitzende wirtschaftliche Konflikt wird mit staatlichen Mitteln ausgefochten und nimmt damit zunehmend auch den Charakter militärischer Spannungen an.
Das erstarkende China beansprucht weite Teile des Südchinesischen Meeres und die Insel Taiwan für sich. Die USA schmieden eine Allianz mit den angrenzenden Mittelmächten, insbesondere Japan und den Philippinen. Je schärfer die Krise auf den globalen Märkten wird, je schärfer die protektionistischen Maßnahmen gegeneinander werden, desto wahrscheinlicher ist der Ausbruch eines Krieges zwischen China und einem US-geführten Bündnis auf der anderen Seite.
Illustration: CharoN. von Teufelsgraben 28.6.2024