Heute findet in Berlin der Christopher-Street-Day (CSD) statt. Auch in diesem Jahr werden mehrere hunderttausend Menschen aus aller Welt erwartet. In vielen anderen Ländern läuft dieselbe Demonstration unter dem Motto Pride – es geht um den Stolz auf die eigene sexuelle Identität. Dieser Stolz ist hart erkämpft worden. Er begann vor 55 Jahren mit einem lokalen Aufstand in New York, erinnert Karl Naujoks.
Vor fünfzig Jahren, in den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969, stürmte die Polizei das Stonewall Inn in New York. Dabei handelte es sich damals um einen bekannten Treff der homosexuellen Szene in der Christopher Street. Die darauffolgenden sechs Nächte waren Nächte voller Ausschreitungen. Sie markierten die Geburtsstunde einer militanten Bewegung für die Befreiung der Homosexuellen.
Geschäfte unter dem Regenbogen
Das lässt sich kaum erahnen, wenn wir die volksfestartigen Massenveranstaltungen in New York, London, Berlin oder vielen anderen deutschen Städten heutzutage betrachten. Mittlerweile sind die Demonstrationen so groß geworden, dass der CSD für zahlreiche Unternehmen zu einem äußerst interessanten Werbeträger geworden ist.
Ob Amazon, Vattenfall oder die Deutsche Bahn: Sie alle schmücken sich mit den Regenbogenfarben der Bewegung, um sich ein sympathisches Image als divers, weltoffen und tolerant zu geben. Umgekehrt gilt das Gleiche: Die Veranstalter der CSD-Demonstrationen in Deutschland werben offensiv um Sponsoren.
Kurzum: Der CSD steht heute nicht nur für Diversität und sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch für Geschäft. Dies ist nicht nur meilenweit entfernt von den Wurzeln der Bewegung, wie sie 1969 entstand. Der Einfluss von Geschäftsinteressen auf den CSD höhlt seinen Charakter als eines Festivals der Befreiung aus.
USA in den 60er Jahren
Die Aktivistin Sherry Wolf beschreibt die Lage, in der sich Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen (LGBT) 1969 in den USA befanden, und die Rolle von Szene-Lokalen:
„In einer Gesellschaft, die von Hass, Angst und Ignoranz gegenüber Homosexualität geprägt war, gab es zumindest einen öffentlichen Treffpunkt, an dem sich Schwule und Lesben in den meisten größeren Städten aufhalten konnten – die Bars.
Doch wie das gesamte öffentliche Leben für LGBT-Personen waren auch die Bars ein Ort, an dem Polizei und Behörden ihre Opfer schikanieren und demütigen konnten: Von der polizeilichen Verhaftung an öffentlichen Cruising-Spots bis hin zu Razzien in Bars wegen vermeintlich „ordnungswidrigen“ Verhaltens.
Obwohl es keine expliziten Gesetze gegen die Bewirtung von Schwulen gab, weigerten sich viele Bars, dies zu tun. Dagegen gab es keine rechtliche Handhabe, da das Küssen oder Tanzen mit einer Person gleichen Geschlechts, ebenso wie das Cross-Dressing als Ordnungswidrigkeit angesehen wurden.
Mafia und Polizei
So kam es, dass die Mafia viele der Lokale leitete, die Schwule, Lesben und Transgender in New York City bedienten. An der Kreuzung von Christopher Street und Seventh Avenue South, war das Stonewall Inn ein dunkles Lokal mit zwei Bars, einer Jukebox und einem zusammengewürfelten Publikum aus Drag Queens, schwulen Jugendlichen, cruisenden Männern und ein paar Lesben.
Schwarze, Latino- und weiße LGBT-Personen mischten sich dort. Es war eines der wenigen Lokale in der Gegend, in dem man tanzen konnte. Wie bei den meisten Lokalen, die sich an Schwule richteten, bestach der Mafia-Besitzer Fat Tony die Polizei, um zu verhindern, dass es wegen Verstößen gegen die gesetzlichen Vorschriften geschlossen wurde.“
Globaler Linksruck
Razzien waren in Bars wie dem Stonewall an der Tagesordnung. Bis heute kursieren Gerüchte und Spekulationen über die Gründe für die Reaktion auf die Polizeirazzia in der Nacht des 28. Juni 1969. Die Polizei behauptete, dass schwule Aktienhändler aus der Wall-Street aus Angst vor einem Outing und dem damit verbunden Verlust des Arbeitsplatzes in Panik gerieten.
Ein anderer Zusammenhang ist offensichtlich: Die Tumulte fanden im Kontext des Aufbegehrens von 1968 statt. Damals revoltierten Schwarze in den städtischen Ghettos gegen rassistische Unterdrückung. Eine riesige Bewegung protestierte gegen den Krieg, den die US-Armee mit Napalm, Luftbombardements und zahllosen Massakern in Vietnam führte.
Es war eine Zeit des Aufbruchs, der keinen Bereich des gesellschaftlichen Lebens unberührt ließ. Der Stonewall-Aufstand war Teil eines verallgemeinerten Linksrucks – in den USA und weltweit.
Die Wut eskaliert
Sherry schildert die Ereignisse, die unmittelbar zu den Unruhen führten, so: „Unter dem Vorwand, dass das Stonewall Inn keine Schanklizenz besaß, wollte eine Handvoll Polizisten unter der Leitung von Deputy Inspector Seymour Pine die Bar in dieser Nacht schnell schließen und die Gäste festnehmen lassen. Aufgrund ihrer homophoben Vorurteile über Schwule und Lesben meinten die Polizisten, dass Widerstand bestenfalls unwahrscheinlich, schlimmstenfalls irrelevant war.
Als sie die Männer und Frauen drinnen zwangen, sich in einer Reihe aufzustellen und ihre Ausweise vorzuzeigen, taten zunächst alle, was ihnen gesagt wurde. Doch als draußen immer mehr Menschen zusammenkamen und die Schikanen zunahmen, verwandelte sich die zunächst fast heitere Stimmung in Wut.
Drei der auffälligsten Drag Queens wurden in vollem Outfit zusammen mit dem Barkeeper und dem Türsteher unter Buhrufen in einen Polizeiwagen verladen. Die nächste Person, die herauskam, war eine Lesbe. Sie wehrte sich, und die Stimmung kippte.
Aus der Masse wurde geschrien: ‚Bullenschweine!‘ ‚Schwule Bullen!‘, dann flogen erste Münzen auf die Beamten.“ Auf eine weitere Verhaftung hin wurden Pflastersteine und Flaschen, später Mülleimer und sogar eine herausgerissene Parkuhr geworfen.
Nach dieser ersten Konfrontation, die fünfundvierzig Minuten dauerte, trafen Einheiten der Aufstandsbekämpfung ein. Es folgte ein stundenlanges Katz-und-Maus-Spiel. Insgesamt waren schließlich rund zweitausend Personen beteiligt.
Sieg über die Polizei
Das fühlte sich wie ein seltener Sieg über die Polizei an. Die Tatsache, dass es „Schwuchteln“, „Transen“, „Lesben“ und Straßenkinder waren, die der Polizei einen entscheidenden Schlag versetzten, entging niemandem.
Die Nachricht von der Rebellion in der Nacht verbreitete sich rasend schnell. Am nächsten Abend kamen organisierte Linke und weitere Schwule, Lesben, Transvestiten und Transgender auf die Straße, um zu sehen, was passieren würde – und um einen Blick auf die Trümmer der vorangegangenen Nacht zu werfen. Viele nutzten die Gelegenheit zur Rache an der Polizei, die sie alle jahrelang straflos gedemütigt und geschlagen hatte.“
Die Polizisten, wütend darüber, dass sie von einem Haufen „Schwuler“ gedemütigt worden sind, versuchten die Christopher Street zu kontrollieren – vergeblich. Der stellvertretende Inspektor Pine, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte und in der Ardennenoffensive verwundet worden war, sagte über die erste Nacht der Ausschreitungen: „Ich hatte noch nie so viel Angst wie in dieser Nacht.“
Die Gay Liberation Front
Die Stonewall-Unruhen waren wichtig, weil sie den Anstoß zu einer organisierten Bewegung gegen die sexuelle Unterdrückung von Schwulen und Lesben gaben. Aus einem Ad-hoc-Komitee für einen Marsch zum Gedenken an die Unruhen entwickelte sich die Gay Liberation Front (GLF). Der Name lehnte sich bewusst an die südvietnamesische Nationale Befreiungsfront an, die damals gegen die US-Armee kämpfte.
Die GLF war von Beginn zwischen jenen gespalten, die die sexuelle Befreiung als einen Akt der identitären Selbstbestimmung verstanden. Und jenen, die einen größeren Bogen hin zu anderen Unterdrückten in der Gesellschaft schlagen wollten. Ihr größtes Verdienst war es, in dem Prozess immer weitere Teile der Gesellschaft zu mobilisieren. Diese Mobilisierungen gaben den Impuls für den jährlichen Gedenkmarsch CSD, der in Berlin in diesem Jahr zum 46sten Mal durchgeführt wird.
Erfolg der Bewegung
Wenn in Berlin, so wie in unzähligen in anderen Städten weltweit in diesem Jahr Millionen zusammenkommen, dann hat das meist Volksfestcharakter. Diese Tatsache ist Ausdruck des Erfolges der Bewegung, die weit über die LGBT-Szene hinaus ausstrahlt.
Zugleich ist es wichtig daran zu erinnern, dass der CSD aus einem Geist des Widerstandes und der Massenmilitanz geboren wurde. Denn rechte politische Kräfte wie die AfD erstarken und machen mit Transfeindlichkeit und Homophobie Stimmung. Sie wollen uns damit gegeneinander aufhetzen und spalten.
Deshalb muss der CSD ein Fest des Widerstandes bleiben. Sexuelle Befreiung und Transrechte sind im Kapitalismus niemals garantiert, sondern müssen immer neu erkämpft werden.
Schlagwörter: CSD, LGBT, Stonewall