Breaking

Wie die Frauenunterdrückung entstanden ist

Allgemein / 31. Mai 2025

Gleichstellung von Mann und Frau – wie kommen wir dahin? Das Problem beginnt bereits mit der Erklärung der Ungleichheit. Vor gut 140 Jahren hat Friedrich Engels mit seiner Schrift ›Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats‹ eine bahnbrechende, marxistische Erklärung geliefert. Sie hat zu Beginn der 1970er Jahre erst eine Renaissance erlebt, ehe sie mit dem Rechtsschwenk der damaligen Frauenbewegung massiver Kritik ausgesetzt war. Chris Harman gleicht Engels’ Thesen mit dem heutigen Forschungsstand ab

Nach Marx’ Tod 1883 verbrachte Friedrich Engels seine Zeit mit leidenschaftlicher Arbeit. Er nahm sich die Schreibhefte vor, die Marx mit ethnographischen No­tizen gefüllt hatte, und schrieb auf dieser Grund­la­ge Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, das 1884 zum ersten Mal erschienen ist. Das Buch ist eine der am meisten missbrauchten mar­xistischen Grundlagentexte. Jeder, der in den ver­gan­genen 60 Jahren Soziologie oder Anthropologie stu­diert hat, wird sie als ›veralteten Unsinn‹ und ›un­se­riös‹ vorgestellt bekommen haben.

Das Buch enthält Fehler. Wie Engels selbst schrieb, be­ruht es auf dem mageren ethnographischen Ma­te­ri­al, das 1884 zugänglich war; inzwischen sind auf die­sem Gebiet viele Studien veröffentlicht worden. Des­halb enthalten Engels’ Schlussfolgerungen zwangs­läufig Fehler. Mehr noch, er untersuchte Ge­sell­schaften der frühen Geschichte, über die wenig Wis­sen vorhanden war, um Rückschlüsse auf Ge­sell­schaf­ten der Vorgeschichte zu ziehen, von denen über­haupt keine Kenntnisse existierten.

Frauenunterdrückung – ein überwindbares Übel

Aber Engels’ wirkliches ›Vergehen‹ besteht darin, dass er drei Thesen von immenser Bedeutung ent­wi­ckelt hat: a) Frauenunterdrückung ist keine all­ge­mein­gültige Erscheinung der menschlichen Natur, son­dern hat ihre materiellen Wurzeln in der vor­herr­schen­den Familienform. b) Die Familie selbst ist nicht unveränderlich, und wir können zurückblicken auf Gesellschaften, in denen die Familie, wie wir sie ken­nen, gar nicht existiert hat, ebenso wenig die Frau­enunterdrückung. c) Die Entwicklung zur Fa­mi­lie als Unterdrückungseinheit fiel zusammen mit dem Entstehen der Klassengesellschaft.

Der Inhalt dieser drei Behauptungen ist re­vo­lu­tio­när. Aus ihnen folgt, dass Frauenunterdrückung kein Re­sultat von Biologie oder dem Verhalten einzelner Män­ner ist, sondern eines der Klassengesellschaft. Die Befreiung der Frau wird so zur erreichbaren Mög­lichkeit. Sie kann aber nicht durch die Reform des heutigen Systems oder die Isolation der Frauen von den Männern erreicht werden. Dafür ist die Be­sei­tigung der Klassengesellschaft durch eine so­zia­lis­ti­sche Revolution erforderlich.

Wie stehen diese drei Behauptungen im Licht der heu­tigen Erkenntnisse da? Wir verfügen über die Ar­chäo­logie und die Anthropologie. Beide haben nur be­grenzten Wert für uns. Archäologische Zeugnisse be­stehen aus den materiellen Überbleibseln von Ge­sell­schaften, die vor vielen tausend oder sogar Mil­lio­nen Jahren existiert haben. Sie können uns über den Kör­­perbau der ersten menschlichen Wesen Auskunft ge­­ben und über einen Teil ihrer Nahrung. Aber über be­stimmte Schlüsselelemente ihres Lebens geben sie we­nig Aufschluss, z. B. über hölzerne oder textile Werk­zeuge und handwerklich erzeugte Gegenstände, über pflanzliche Nahrung, über ihre Sprache und My­thologie.

So müssen wir auf der Basis dieser kärglichen Zeug­nis­se Verallgemeinerungen zum Verhältnis dieser Men­schen zur Natur und zueinander treffen. Trotz­dem gibt es einige Schlüsse, die wir mit einiger Si­cher­heit ziehen können. Der wichtigste betrifft die ma­terielle Versorgungsweise dieser Menschen.

Gesellschaften ohne Frauenunterdrückung

Bis vor etwa 10 000 Jahren beruhten alle mensch­li­che Gesellschaften auf dem Sammeln und Jagen. Werk­zeuge wurden benutzt, um den täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln, Kleidung und Unterkunft zu be­schaf­fen. Die Quellen mussten in der unmittelbaren Um­gebung aufgetrieben werden: Nüsse, Wildfrüchte und Wurzeln auf der einen, wildlebende Tiere auf der an­deren Seite. Weil die vorhandene Menge pflanz­li­cher und tierischer Nahrungsmittel an einem Ort be­grenzt war, war auch die Anzahl der Menschen be­grenzt, die als Gruppe zusammenleben konnten. Und weil die Nahrungsquellen nach einer bestimmten Frist erschöpft waren, mussten die Gruppen in kur­zen Abständen von einem Ort zum nächsten ziehen. Un­ter solchen Bedingungen konnten sie nur kleine Men­gen von Werkzeugen oder Vorräten anhäufen.

Das war die Periode der Vorgeschichte, die Engels nach Morgan und anderen Forschern des 19. Jahr­hun­derts die ›Wildheit‹ nannte. Etwa 90 Prozent der Ent­wicklungsgeschichte des Menschen müssen zu die­ser Periode gerechnet werden (vielleicht sogar mehr als 99,5 Prozent, wenn man diejenigen unserer frü­hen Vorfahren mit einbezieht, deren Merkmale eher menschlich als affenähnlich waren.

Wenn es eine biologisch bestimmte ›menschliche Na­tur‹ gibt, muss sie sich in dieser Periode aus­ge­formt haben (weswegen die Formen des mensch­li­chen Zusammenlebens und die Ge­schlech­ter­ver­hält­nis­se in dieser Periode eine wichtige Grundlage für al­le heutigen Diskussionen zum Thema ›Natur und Ge­sellschaft‹ bilden).

Übergänge

Vor ungefähr 10 000 Jahren entdeckten dannn Völ­ker in einigen Teilen der Erde, dass sich regelmäßige Ern­ten einfahren lassen, wenn man die wilde Ve­ge­ta­tion abbrennt, um dann Samenkörner in den Boden zu stecken, der zuvor entweder mit einer Art Hacke auf­gekratzt worden ist oder in den man mit einem Stock Löcher gebohrt hatte. So unvollkommen die ur­sprüng­lichen Techniken gewesen sein mögen: Sie führ­ten zu einer gewaltigen Steigerung der Pro­duk­ti­vi­tät im jeweiligem Siedlungsgebiet.

Die menschlichen Ansiedlungen mussten jetzt nur noch verlegt werden, wenn die Fruchtbarkeit des Bo­dens erschöpft war – eher im Abstand von Jahren als dem von Monaten. Jetzt war es sinnvoll, viel Arbeit in die Herstellung von entwickelten Werkzeugen zu ste­cken, auch wenn sie schwer zu tragen waren, da man sie nicht mehr so häufig transportieren musste. Von nun an steckten die Menschen viel Arbeit in die Her­stellung von Tongefäßen. Das wiederum erlaubte ih­nen, Nahrungsmittel in einem Ausmaß zu lagern, das vorher unerreichbar war.

Die gesteigerte und zuverlässige Nah­rungs­mit­tel­ver­sor­gung versetzte sie in die Lage, vergleichsweise gro­ße Tiere in ihrer Umgebung zu halten und zu zähmen (Scha­fe, Ziegen, Schweine, Rinder usw.).

Die Anzahl, in der Menschen im Schnitt zu­sam­men­leb­ten, lag nun viel höher: Sie war nicht mehr be­grenzt durch die wild wachsenden Nahrungsmittel, die man vorfand – im Gegenteil, eine größere Be­völ­ke­rung konnte das Land in gewissen Grenzen in­ten­si­ver bearbeiten und den Ernteertrag erhöhen.

Die Archäologie liefert Zeugnisse über eine andere wich­tige Veränderung, die zum gleichen Zeitpunkt ein­tritt. Zum ersten Mal gibt es Vorräte an Waffen, die aus­drücklich zum Töten anderer Menschen be­stimmt sind. Der Krieg, den eine Gruppe von Men­schen gegen eine andere anfängt, verspricht ab jetzt ei­ne lohnende Beute: die Kontrolle über das frucht­bare Land der anderen und ihre Nahrungs- und Werk­­zeugvorräte.

Diese Gesellschaften (den heutigen Anthropologen als ›Gartenbaugesellschaften‹ bekannt und denen, die sich an den Begrifflichkeiten von Morgan und En­gels orientieren, als ›Unterstufe der Barbarei‹) durch­lie­fen ihrerseits an manchen Orten eine weitere Ent­wick­lung. Die Menschen entdeckten, wie sie die Mus­kelkraft bestimmter domestizierter Tiere mit ei­nem verbesserten hölzernen Werkzeug zur Bo­den­be­ar­beitung verbinden konnten, dem Pflug. Das Er­geb­nis war eine weitere erhebliche Steigerung der land­wirt­schaftlichen Produktivität. Mit der Bereitstellung aus­reichender Nahrungsmittel konnten noch größere mensch­liche Siedlungen entstehen und noch größere Tier­herden unterhalten werden, während viel mehr mensch­liche Arbeitskraft für die Herstellung von Werk­zeugen und handwerklichen Gegenständen frei wurde.

Dieses Stadium der systematischen Landwirtschaft (oder nach Morgan und Engels: der ›Oberstufe der Bar­barei‹) bildete die materielle Grundlage für die He­rausbildung von Städten, nicht-land­wirt­schaft­li­chen Berufen, der ersten Schriftformen, ›haupt­be­ruf­li­chen‹ Soldaten und Priestern – kurz, die Epoche der Zi­vilisation.

Die Übergänge vom Sammeln und Jagen zum Gar­ten­bau, vom Gartenbau zur eigentlichen Land­wirt­schaft und von ihr zur Zivilisation ereigneten sich nicht überall. Tatsächlich lebte ein großer Teil der Men­schen auf der Erde unter materiellen Be­din­gun­gen, die sich kaum von den Vorläufern der Zi­vi­li­sa­tion unterschieden, bis der Kapitalismus ausgehend von Westeuropa seine Fangarme nach allen bis dahin exis­tierenden Gesellschaften ausstreckte.

Die Ethnologie (die vergleichende Völkerkunde) ist der Versuch, eine Wissenschaftschaft zu entwickeln, die auf der Beobachtung dieser sogenannten ›pri­mi­ti­ven‹ Gesellschaften beruht, um aus ihr allgemeine theo­retische Schlüsse zu ziehen. Diese Beo­bach­tun­gen und Schlussfolgerungen wurden genutzt, um Aus­sagen über den Charakter vorgeschichtlicher Ge­sell­schaften zu treffen.

Der amerikanische Ethnologe Morgan und der von ihm beeinflusste Engels waren zwar die ersten, die die­se Herangehensweise nutzten, aber die meisten Leu­te, die im letzten halben Jahrhundert denselben Weg beschritten, haben behauptet, Engels Auf­fas­sun­gen zu Frauenunterdrückung und Familie seien durch Tatsachen widerlegt.

So vertritt der US-amerikanische Anthropologe Lin­ton die Ansicht, die Familie sei eine unveränderliche Er­scheinung aller Gesellschaften, die sogar bei den hö­her entwickelten Affen vorkomme. Die sehr ein­fluss­reichen britischen Anthropologen Bronisław Ma­linowski und Evans Pritchard versuchen, dasselbe zu belegen. Pritchard besteht darauf, dass »Männer un­geachtet der Formen sozialer Strukturen [Frauen] im­mer überlegen sind«.

Der französische Anthropologe Levi-Strauss beharrt auf der Allgemeingültigkeit der männlichen Vor­herr­schaft. Das begründet er mit dem in vielen vor­zi­vi­li­sier­ten Gesellschaften geltenden Inzesttabu, dessen Re­geln er als »Regeln für den Frauentausch durch Män­ner« versteht.

Einige ›marxistische‹ Anthropologenen haben diese Be­hauptungen zum Anlass genommen, Engels zu ›wi­derlegen‹. Maurice Godelier argumentiert so: »Wir kön­nen annehmen, dass die Arbeit von Männern in je­der Gesellschaft höher bewertet wird als die von Frauen«, und der Ethnologe Maurice Bloch bestreitet die Existenz von Gesellschaften, in denen »Frauen Män­nern gleichgestellt oder keine Klassen vor­han­den waren«.

Schließlich haben separatistische Ra­di­kal­fe­mi­nis­tin­nen wie Firestone, Ortner und Rosaldo dasselbe Grund­argument übernommen, nach dem Männer im­mer die Herrschaft ausgeübt hätten und es immer tun würden, solange sich die Frauen nicht von ihnen trenn­ten.

Aber dieser Umgang mit den Erkenntnissen ist aus zwei Gründen unzulässig. Zunächst können die ›pri­mi­tiven‹ Gesellschaften, die heute noch bestehen, nicht einfach mit den vor 5000 – 10 000 Jahren exis­tie­ren­den Gesellschaften gleichgesetzt werden. Sie ha­ben sich seitdem immer wieder verändert. Einige der Wild­beutergesellschaften, die es heute noch (etwa im Ama­zonas-Gebiet) gibt, waren einst Gar­ten­bau­ge­sell­schaften, die in ihrer Entwicklung zurückgefallen sind. Einige Völker, die in landwirtschaftlichen Ge­sell­schaften leben, sind die Nachfahren un­ter­ge­gan­ge­ner Zivilisationen.

Das gleichzeitige Bestehen von Gesellschaften, die auf einer entwickelteren Produktionsweise beruhen, hat zwangsweise alle benachbarten ›primitiven‹ Ge­sell­schaften beeinflusst. Angesichts des Drucks von Gar­tenbau-, landwirtschaftlichen und ›zivilisierten‹ Ge­sellschaften haben sich Wildbeutergesellschaften für gewöhnlich nur in extremen Randgebieten (der Ark­tis, der Kalahari- und der australischen Wüste und den tropischen Regenwäldern) halten können.

Nicht zuletzt sind alle drei Formen der vor­zi­vi­li­sier­ten Gesellschaften mehr oder weniger in den Welt­markt integriert worden: Jäger verkaufen Tierfelle an ka­­pitalistische Händler, Gartenbauer produzieren Saat­­gut oder Fasern für westliche Konzerne, Bauern sind Teil der größten Wirtschaftsbranche auf der Welt.

Mit dem kapitalistischen Markt sind der bürgerliche Staat und die bürgerliche Religion gekommen, die sich nachdrücklich bemüht haben, die vor­ge­fun­de­nen Verhaltensnormen ihren eigenen Mo­ral-vor­stel­lun­gen anzupassen. Deshalb wäre es kaum ver­wun­der­­lich, in diesen Gesellschaften heute auf Formen männ­­licher Vorherrschaft zu treffen, die in der Ver­gan­genheit nicht vorhanden gewesen sein müssen.

Das zweite Problem bildet die Erwartungshaltung der Mehrheit anthropologischer Beobachter, die auf das Vorfinden bestimmter Erscheinungen gebaut ha­ben. Bei all ihrem wissenschaftlichen Anspruch sind auch sie nur Individuen aus entwickelten bür­ger­li­chen Gesellschaften, die ausgezogen sind, um ›pri­mi­ti­ve‹ Gesellschaften von außen zu beobachten. Oft spra­chen sie nicht einmal deren Sprache und brach­ten alle Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft mit.

Sie waren in der Erwartung aufgebrochen, genau auf die Phänomene zu stoßen, die der Kapitalismus die­sen Gesellschaften aufgedrückt hat. Dann benutzten sie ihre Beobachtungen, um den Schluss zu ziehen, die­se Erscheinungen hätten seit je her existiert und wür­den es auch immer tun.

Erst in den jüngsten Jahren wurden die Fehler in die­sen Schlussfolgerungen aufgedeckt, als einige vom Mar­­xismus inspirierte Feministinnen diese Arbeiten noch einmal unter die Lupe nahmen. Der An­thro­po­lo­ge Malinowski konnte z. B. behaupten, Frauen kä­me in der Trobriander-Gesellschaft, die er beo­bach­tet hat, eine geringere wirtschaftliche Bedeutung zu, weil er deren Rolle beim Sammeln von Ba­na­nen­blät­tern völlig ignoriert hat – obwohl er selbst vor einem Stoß Bananenblätter fotografiert worden ist.

Andere Anthropologen haben behauptet, Frauen wür­den in bestimmten Ritualen der australischen Ur­be­völkerung bedeutungslos sein, weil sie einen wich­ti­gen Moment in der Zeremonie gar nicht beachtet hat­ten, in dem die Männer sich (vermutlich mitsamt der Anthropologen) abwenden, damit die Frauen wich­tige rituelle Gesten vollziehen können.

Benutzen wir also die Beobachtungen von An­thro­po­logen für unser Verständnis der Entwicklung der mensch­lichen Gesellschaft, sollten wir das vorsichtig und kritisch tun.

Nichtsdestotrotz können wir einige Schlüsse ziehen. Noch existierende Wildbeutergesellschaften leben in Grup­pen von 20 bis 30 Menschen zusammen. For­ma­le Autoritätsstrukturen und eine Aufteilung in Klas­sen sind kaum vorhanden. Die Mitglieder stoßen frei­willig zur Gruppe und wenn es Streit gibt, zieht die eine Partei einfach zu einer anderen Gruppe.

Frauen und Männer leben in Paaren innerhalb die­ser Gruppen und es gibt eine geschlechtsspezifische Ar­beitsteilung. Die Frauen sammeln hauptsächlich, die Männer jagen (wobei auch Frauen sich an der Jagd beteiligen). Das ließ viele Autoren zur Ansicht ge­langen, die Männer beherrschten die Frauen in ei­ner Art Frühform der patriarchalischen Familie. Aber tat­sächlich verhält es sich anders. In den meisten (wenn auch nicht allen) heute noch existierenden Wild­beutergesellschaften sind Frauen und Männer glei­­chermaßen an Entscheidungen beteiligt und kön­nen Beziehungen beenden, wenn sie es wollen.

Die Ansicht, Männer übten eine Art Herrschaft aus, fußt üblicherweise auf dem Mythos vom ›Mann als Jä­ger‹ – das  Sammeln von Knollen, Beeren und Nüs­sen wurde als unbedeutender betrachtet als die Jagd. Tat­sächlich lieferte das Sammeln einen viel größeren Teil der Nahrung als die Jagd. Fleisch machte kaum mehr als 30 Prozent der Nahrung aus und bildete ei­ne viel unzuverlässigere Nahrungsquelle.

Die geschlechtsgebundene Arbeitsteilung in diesen Völ­kern wurde den Frauen keineswegs von den Män­nern auferlegt, sondern entspricht den Bedürfnissen der Gruppe. Sie kann nur überleben, wenn eine Min­dest­zahl von Kindern geboren und großgezogen wird, was das Stillen im Säuglingsalter mit ein­schließt. Auf der Suche nach Nahrungsquellen ist die Grup­pe stets in Bewegung und eine Mutter muss ihr Kind mit sich herumtragen, bis es etwa vier Jahre alt ist. Unter die­sen Umständen kann sie nicht öfter ge­bä­ren als alle vier Jahre; und weil ungefähr die Hälfte al­ler Kinder im Säuglingsalter stirbt, muss die durch­schnitt­liche Frau entweder schwanger sein oder Kin­der groß­zie­hen, soll die Gruppe überleben.

Für Kinder tragen Frauen allein die Verantwortung. Ab einem Alter von vier Jahren spielen Männer eine grö­ßere Rolle. Aber dieses Verhältnis erschwert den Frau­en die Teilnahme an der Jagd: Das Jagen grö­ße­rer Tiere erfordert schnelle Bewegungen, die sich nicht vollführen lassen, wenn man ein Kind trägt. Mehr noch, es ist eine unsichere und riskante Ak­ti­vi­tät. Ein paar Männer zu verlieren kann sich eine Grup­pe leisten, aber nicht diejenigen ihrer Mit­glie­der, die allein Kinder gebären können.

Entscheidend aber ist, dass die Arbeitsteilung (auch wenn sie den biologischen Unterschieden entspringt) nicht automatisch zur Beherrschung des einen Ge­schlechts durch das andere führt.

Die amerikanische Anthropologin Ernestine Friedl stellt fest, dass Männer ein höheres Ansehen ge­nie­ßen und mehr Macht in Jäger-und-Sammler-Völkern ha­ben, in denen die Jagd größere Bedeutung für die Ver­sorgung hat (wie etwa in der Arktis oder der aus­tra­lischen Wüste). Aber auch sie besteht darauf, dass die­se Sachlage nichts mit der systematischen Un­ter­drü­ckung von Frauen in Klassengesellschaften zu tun hat.

Weiter gehen Eleanor Leacock und Karen Sachs. Sie sa­gen, in allen Jäger-und-Sammler-Völkern stoße man auf eine annähernde Gleichberechtigung von Män­nern und Frauen, wenn man die vorhandenen Kennt­nisse kritisch würdigt. Jedenfalls sind wir weit ent­fernt von einer ›generell vorherrschenden Do­mi­nanz von Männern‹, die vielfach unterstellt wird. Gibt es eine ›menschliche Natur‹, dann muss sie in der ge­wal­tigen Zeitspanne entstanden sein, in der unsere Vor­fahren in den beschriebenen Gesellschaftsformen zu­sammengelebt haben. Und die haben keine An­halts­punkte für die Annahme hinterlassen, eine solche Natur beinhalte eine Neigung von Männern, Frauen zu unterdrücken, oder eine von Frauen, diese Unterdrückung zu akzeptieren.

Frauenunterdrückung und der Aufstieg der Klassengesellschaft

Während sich über den jeweiligen Beitrag von Män­nern und Frauen zum materiellen Unterhalt der Ge­sell­schaft trefflich streiten lässt, lässt die nächste Ent­wick­lungsstufe, die Gartenbaugesellschaft, kaum Raum für Zweifel.

Die Bodenbearbeitung mit Hacke und Grabstock ent­wickelte sich aus dem Sammeln pflanzlicher Nah­rung und ist fast überall eine Arbeit für Frauen (wo­bei Männer für die Landrodung verantwortlich ge­we­sen sein können). In diesen Gesellschaften sind Frau­en in erster Linie Beschafferinnen von Nahrung und Klei­dung – und ihr sozialer Rang ist entsprechend hoch.

Die Teilung der Gesellschaft in Klassen wird zwangs­läufig begleitet vom Aufstieg des Staats – einer Ein­heit bewaffneter Männer, die vom Rest der Ge­sell­schaft abgeschnitten ist. Die neue Ausbeuterklasse braucht diese Einrichtung, um ihre eigene Stellung zu schützen und durch Eroberung und Sklaverei aus­zu­bauen.

Die Veränderungen, die mit der Entstehung von Land­wirtschaft, Klassengesellschaft und Staat ein­her­gin­gen, hatten beträchtliche Folgen für die Stellung der Frauen. Der Ackerbau mit dem Pflug und die Hal­tung von Viehherden erfordern eine Arbeitsweise, die lang­fristig nicht mit dem Gebären und Stillen von Kin­dern vereinbar ist. In dieser Hinsicht un­ter­schei­det sich die Arbeit in der eigentlichen Landwirtschaft von der vorangegangenen im Gartenbau.

In Gartenbaugesellschaft beteiligten Frauen sich an der Ernennung von Kriegshäuptlingen, an Ent­schei­dun­gen, wer mit wem verheiratet wird, und sie be­stimm­ten über das Foltern von Gefangenen.

In all diesen Gesellschaften bildete die Ab­stam­mungs­linie das Schlüsselelment der ge­sell­schaft­li­chen Organisation – in vaterrechtlichen Ge­sell­schaf­ten die Verwandtschaft zum Vater, zu den Ge­schwis­tern, Onkeln und Tanten der väterlichen Seite, in mut­terechtlichen die zur Mutter, ihren Geschwistern usw.). Geheiratet wird stets außerhalb dieser Linie, aber die Bindungen zur Sippe bleiben für das Indi­vi­du­um entscheidend – sie sind in vielfältiger Hinsicht be­deutsamer als die Bindung zum Ehemann.

Eine Hochzeit stellt nicht nur eine individuelle Ver­bin­dung her, sondern ein Verhältnis zwischen den Verwandtschaftslinien, das durch Individuen ver­mit­telt wird. Auch wenn die Frau eine ›Ehefrau‹ ist, ist sie vor allem eine Schwester – und jede Unterdrückung, die sie durch ihren Mann erfahren würde, würde schnell zum Einschreiten ihrer Verwandtschaft füh­ren. Innerhalb der Sippe werden die Entscheidungen kei­neswegs allein von Männern getroffen, sondern auch von den älteren Frauen (siehe dazu: Karen Sachs, Sisters and Wifes).

Eine dieser Gesellschaften, die der Irokesen im US-ame­rikanischen Bundesstaat New York, war es, die Mor­gan untersuchte. Aufgrund seiner Forschungen kam Engels zur Feststellung, in der menschlichen Ge­schichte habe es eine Etappe des Mutterrechts ge­ge­ben. Die Irokesen gehören zu einer Reihe von Ge­sell­schaften, die sich durch die Bezugnahme auf die Mut­ter auszeichnet. Für die Abstammung ist dort die weib­liche Linie entscheidend. Erwachsene Männer zie­hen in das Haus ihrer Schwiegermutter. Die Stel­lung der Frau ist in diesen Gesellschaften besonders hoch: Der Mann ist zunächst ein ›Fremdkörper‹ in dem Haus, in dem er zusammen mit seiner Frau, ih­rer Mutter, ihren Schwestern und den Männern, mit de­nen sie verheiratet sind, lebt.

Aber es wäre falsch, diese Gesellschaften als ›Ma­tri­ar­chat‹ zu bezeichnen. Diese Bezeichnung würde be­in­halten, dass Frauen die Männer dort in ver­gleich­ba­rer Weise beherrscht hätten, wie sie in der Klas­sen­ge­sellschaft beherrscht werden. Aber eine derartige Un­terwerfung einer gesellschaftlichen Gruppe durch ei­ne andere konnte erst mit der Klassengesellschaft ent­stehen.

Darüber hinaus sind die meisten Gar­ten­bau­ge­sell­schaf­ten gar nicht mutterechtlich organisiert. Für die Ab­stammung ist oft die männliche Linie ent­schei­dend und den Wohnsitz bildet für gewöhnlich das Haus des Mannes.

Trotzdem haben wir es hier immer noch mit Ge­sell­schaf­ten zu tun, in denen Frauen eine hohe Stellung ein­nehmen. Der Grund dafür liegt, wie Engels be­merkt, in der Schlüsselrolle, die sie in der Sippe ge­spielt haben – von Engels »Gens« oder »Clan« ge­nannt.

Die systematische Ausbeutung eines Be­völ­ke­rungs­teils durch einen anderen ist in Jäger-und-Sammler- wie in Gartenbaugesellschaften nicht möglich. Die Pro­duktivität der menschlichen Arbeit ist einfach zu ge­ring, um einen Überschuss an Nahrung und Klei­dung zu erzeugen, der ausreichen würde, um einer Min­derheit die Konzentration auf nicht-produktive Tä­tigkeiten oder gar den Müßiggang zu ermöglichen. In diesen Gesellschaften existiert kein nennenswertes Mehr­produkt.

Mit dem Pflug kam die Knechtschaft ins Haus

Das wird erst durch den gewaltigen Pro­duk­ti­vi­täts­fort­schritt ermöglicht, der aus dem Übergang vom Gar­tenbau zur Landwirtschaft erwächst. Diese Ver­än­derung wiederum ermöglicht die Entstehung von Keim­formen der Klassenteilung,

Eine Schicht von Herrschern, Priestern oder Händ­lern beginnt sich zu entwickeln, die nicht an die re­gel­mäßige Landarbeit gebunden ist. Der Ge­mein­schaft insgesamt verschafft das bestimmte Vorteile: Die Angehörigen dieser Schicht können einen Teil ih­rer Zeit der Erforschung von Methoden zur weiteren Stei­gerung der Produktivität widmen, dem Ausbau des Handels mit den Nachbargemeinschaften oder dem Aufbau von Streitkräften zur Verteidigung oder für Überfälle auf die Nachbarn. Die Vorteile jedoch eig­nete sich die herrschende Klasse an (denn wäh­rend der durchschnittliche Arbeitstag in den Wild­beu­tergesellschaften durchschnittlich etwa vier Stun­den betrug, war er in den Land­wirt­schafts­ge­sell­schaf­ten viel länger).

So hat auch Gordon Childe festgestellt:

»Der Pflug verwandelte den Ackerbau von der Be­stel­lung eines kleinen Grundstücks in den land­wirt­schaft­li­chen Feldanbau und schuf eine unlösbare Verbindung von Ackerbau und Viehzucht. Er befreite die Frauen von der härtesten Plackerei, aber er entzog ihnen das Mo­nopol über die Getreideernten und den ge­sell­schaft­lichen Status, der mit ihm verbunden war. Unter den ›Barbaren‹ sind es die Männer, die die Felder pflü­gen, obwohl die Frauen noch die Gärten bestellt hatten. Und sogar in den ältesten sumerischen und ägyp­ti­schen Quellen sind die Pflüger tatsächlich männlich.« (What Happened in History, S. 72)

Frauen verrichteten weiterhin produktive wie auch re­produktive Aufgaben. Aber die Erzeugung des maß­geblichen Lebensunterhalts – und die Quelle des neu­en, wachsenden Überschusses – war in den Hän­den der Männer.

Zwei weitere Faktoren vergrößerten ebenfalls den Ein­fluss der Männer auf Kosten der Frauen. Der Han­del mit Überschüssen unter verschiedenen Ge­mein­schaf­ten brachte lange und anstrengende Reisen mit sich, die für Frauen, die mit kleinen Kindern belastet sind, kaum durchführbar waren; dieser Handel wur­de meistens (wenn auch nicht ausnahmslos) zur Do­mä­ne der Männer. Und das Großziehen der Kinder mach­te die neuen Berufsarmeen zu männlichen Ins­ti­tutionen (zwar gibt es auch Zeugnisse von einigen Ge­sellschaften mit weiblichen Soldaten, aber sie kom­men äußerst selten vor und liegen weit aus­ein­an­der). Die Menschen, die die Kontrolle über den neu gewonnenen Überschuss ausübten, waren in der Re­gel Männer. Für sie war die männliche Vor­herr­schaft nur ein Aspekt ihrer Herrschaft über den Rest der Gesellschaft. Frauen wurden für sie zu Spielzeug, Zier­de oder einem Mittel, sich Verbindungen zu an­de­ren Herrschern zu verschaffen – sie wurden in keins­ter Weise mehr als Wesen angesehen, die den Män­nern gleichgestellt wären.

Mehr noch, die Klassenteilung untergrub das Ver­wandt­schaftsgefüge. Als Klasse und Staat an die Stelle von Clan oder Gens traten, verloren die Frauen die letz­ten Bastionen des Schutzes vor den Männern im Haus.

Dieser Wandel wirkte sich auch auf das Zu­sam­men­le­ben der ausgebeuteten Bauern (und das der we­ni­gen Handwerker) aus wie auf die neue herrschende Klas­se. Die ausgebeuteten Klassen lebten nun nicht mehr in verwandtschaftlich strukturierten Gruppen, son­dern in Haushalten, in denen ein Mann die Kon­trol­le über die wichtigsten produktiven Tätigkeiten be­kam und die meisten Männer (seine Söhne und Die­ner oder Sklaven) sowie alle Frauen eine un­ter­ge­ord­nete Rolle spielten.

Das Aufkommen der Klassengesellschaft und die Auf­lösung des alten Verwandtschaftsgefüges brachte die patriarchale Familie und die Frau­en­unter­drü­ckung hervor.

Die Befreiung der Frau

Diese kurze Darstellung zeigt uns, wie wichtig der zen­trale revolutionäre Kern der Argumentationslinie von Engels bleibt. Seine Erklärung ist nicht ohne Feh­ler. Aber er hat Recht, wenn er die Frau­en­un­ter­drü­ckung nicht auf die ›menschliche Natur‹ zurückführt, son­dern auf eine bestimmte Familienform, wenn er die Familienform in ihrer Abhängigkeit von der ma­te­ri­ellen Produktion der Gesellschaft betrachtet und wenn er die Verbindung der Frauenunterdrückung mit der Entstehung von Klassengesellschaft und Staat un­terstreicht.

Diese Schlussfolgerungen sind auch heute noch re­vo­lutionär. Während der überwältigend großen Zeit­span­ne des menschlichen Lebens auf der Erde haben bio­logische Unterschied zwischen den Geschlechtern die Frauen nicht zu ihrer Unterdrückung verdammt, auch wenn es eine gewisse geschlechtsspezifische Ar­beits­teilung gegeben hat. Erst mit dem jüngsten Ab­schnitt der menschlichen Geschichte – mit dem Ent­ste­hen der Klassengesellschaft – wurden Biologie und Un­terdrückung miteinander verbunden.

Schließlich hat die jüngste Epoche der Klas­sen­ge­sell­schaft – der Kapitalismus – die Produktionsmittel so weit entwickelt, dass ein materieller Grund für den Aus­schluss von Frauen aus den meisten Pro­duk­tions­pro­zessen nicht mehr existiert. Ihre heute noch be­ste­hende Unterdrückung ist weder das Resultat der mensch­lichen Natur noch das der Biologie. Sie ist das Pro­dukt der Klassengesellschaft, die gestürzt werden muss, wenn die Menschheit nicht eine noch schlim­me­re Alternative als die Rückkehr zur Barbarei er­fah­ren will.

 











Previous Post

Wiedereinführung der Wehrpflicht: »Wir wollen kein Kanonenfutter sein!«

Next Post

Polizei und Faschisten wieder Hand in Hand




More Story

Wiedereinführung der Wehrpflicht: »Wir wollen kein Kanonenfutter sein!«

Global tobt ein Aufrüstungswettlauf, und Deutschland will dabei ganz vorne mitmischen. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht...

27. May 2025