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Der globale Kapitalismus gerät aus den Fugen

Allgemein / Revolutionäre Linke / 29. Oktober 2024

Thesen zur politischen Lage

Am vergangenen Wochenende fand in Marburg die erste Vollversammlung der Revolutionären Linken statt. Wir dokumentieren im Folgenden die Politischen Leitthesen zur Politischen Lage, die den Rahmen für die weitere politische Arbeit setzen. 

  1. Die globalen Rahmenbedingungen sind seit über zwei Jahren von einer dramatischen Zuspitzung der inter-imperialistischen Rivalitäten geprägt. Kanzler Olaf Scholz rief nach dem russischen Angriff auf die Ukraine die „Zeitenwende“ aus. Tatsächlich hat sich die Bundesregierung im Interesse der strategischen Linien des deutschen Kapitals hinter das Lager des „Westens“ gestellt und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland weitgehend abgebrochen, obgleich dies starke wirtschaftliche Nachteile mit sich brachte. Auch wird der Konflikt zwischen den USA und China immer schärfer. Deutschland positioniert sich hier politisch hinter den USA, obgleich die wirtschaftliche Bedeutung Chinas für das deutsche Kapital weiterhin hoch bleibt.
  2. Unter dem Strich sehen wir ein Auseinandertreiben der Welt in rivalisierende Blöcke, die wirtschaftlich zunehmend auf „industriepolitische“ Maßnahmen setzen – das heißt auf milliardenschwere, staatskapitalistische Interventionen zum Schutz der jeweils eigenen Unternehmen, häufig mit einem besonderen Blick auf die Wahrung der militärischen Fähigkeiten. Allein der US-amerikanische „Inflation Reduction Act“ hat einen Umfang von 300 Milliarden US-Dollar und soll unter dem Banner des „Klimaschutzes“ die US-Wirtschaft schützen.
  3. Auch die Bundesregierung betreibt, geführt von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, unter dem Deckmantel des Klimaschutzes ein derartiges industriepolitisches Programm. Milliarden wurden zugesagt, um in Ostdeutschland Halbleiterwerke des taiwanesischen Unternehmens TSMC sowie von Intel anzusiedeln, den Stahlhersteller ThyssenKrupp zu stützen und die Meyer Werft zu 80 % aufzukaufen. Nun wird über die Stützung von VW nachgedacht.
  4. Nicht immer ist diese Politik von Erfolg gekrönt: Intel hat die Investitionszusage zurückgestellt und baut stattdessen mit US-Milliarden in den USA seine Produktion aus – um dem Pentagon einen einheimischen Chiphersteller zu sichern. ThyssenKrupp ist gerade dabei, trotz staatlicher Unterstützung seine Stahlsparte an ein ausländisches Unternehmen zu verkaufen. Hier kommt zum Ausdruck, dass die globalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zunehmend schlechter werden.
  5. Die sich anbahnende Krise malt nach einem Jahrzehnt des „Fachkräftemangel“ das alte Gespenst der Massenarbeitslosigkeit an die Wand. Die Deutsche Bahn will trotz massiven Investitionsstaus viele Stellen abbauen; VW will ein Werk schließen. Entlassungen sind auch bei ZF im Gespräch, die Meyer Werft kommt ins Trudeln. Die Solarbranche steht vor einer Pleitewelle. Wir stehen am Beginn einer sich lang hinziehenden Stagnationskrise. Für das laufenden Jahr erwarten die Experten für deutsche Volkswirtschaft ein Wachstum von -0,1 Prozent. Der sogenannte Gesamtindex für die Einschätzung der Konjunktur in der Eurozone verschlechterte sich im September 2024 auf rund -15,4 Punkte, was den niedrigsten Wert seit Januar 2024 darstellt.
  6. Noch gibt es in vielen Branchen einen Arbeitskräftemangel, so dass wir viele Streiks haben, die aber alle für sich zersplittert bleiben, ohne dass ein Konflikt prägend für die gesamte Gesellschaft werden würde. Wir haben in den vergangenen Monaten vier Arbeitskonflikte auf unserer Website dokumentiert: Die Arbeitskämpfe bei der Deutschen Bahn, bei der Telekom, im Öffentlichen Dienst (Länder) und beim Bau. Viele andere kleinere Kämpfe sind zu verzeichnen, und nicht selten können zumindest Punkterfolge für die Belegschaften verbucht werden.
  7. Dies steht in einem krassen Widerspruch zu einer verbreiteten Frustrationsstimmung, die vor allem der politischen Großwetterlage geschuldet ist. Die regierenden SPD und Grüne haben sich durch ihre Gefangenschaft in einer Koalition mit der FDP zu gefangenen der „Schuldenbremse“ gemacht. Die Zeitenwende von Scholz bedeutet zwar, dass die Rüstungsausgaben massiv hochgefahren werden und parallel dazu ein Schattenhaushalt von 100 Milliarden Euro für die Streitkräfte bereitgestellt wurden; alle anderen Schattenhaushalte wie der Klimatransformationsfonds oder der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (zusammen über 250 Milliarden Euro) wurden jedoch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember 2023 in den normalen Haushalt überführt und dort gekürzt oder gleich ganz gestrichen. Folge ist die Unfähigkeit von SPD und Grüne, die erforderlichen Investitionen in die Infrastruktur oder den Sozialstaat zu stecken. Gepaart mit den Liberalisierungen der Vergangenheit etwa in Bildung und Gesundheit führt dies dazu, dass weite Teile der „systemrelevanten“ Belegschaften unterbezahlt und krass überarbeitet sind.
  8. Zur verbreiteten Frustration trägt auch bei, dass das politische Kernthema von rot-grün, die „Klimawende“, mittels marktwirtschaftlicher Methoden durchgesetzt wird. Nach den enormen Preissteigerungen, ausgelöst durch den Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland und der Energiekrise im Jahr 2022, kamen im Jahr 2023 erhebliche Ängste wegen möglicherweise anstehenden Kosten für die privaten Haushalte beim anstehenden Heizungstausch hinzu. Die Bild-Zeitung und andere Medien heizten diese Ängste an, es profitierte die AfD. Diese konnte in bundesweiten Umfragen in der zweiten Jahreshälfte 2023 ihre absoluten Spitzenwerte erzielen.
  9. Zu dieser Rechtswende haben SPD und Grüne massiv beigetragen, da sie nicht in der Lage waren, irgendetwas den wiederholten rassistischen Kampagnen entgegenzusetzen. Im Gegenteil feuerte Kanzler Scholz diese vor einem Jahr noch an, als er demonstrativ von der Notwendigkeit sprach, dass nun „im großen Stile abgeschoben“ werden müsse. Unmittelbar vor der Europawahl wiederholte sich der Mechanismus infolge eines Angriffs auf einen Polzeibeamten in Mannheim, sowie nach den Messerangriffen von Solingen vor den ostdeutschen Landtagswahlen.
  10. Seitdem hat sich die Idee, dass es einen Zusammenhang zwischen Zuzug und Unsicherheit gebe, praktisch in nahezu allen politischen Lagern an Wirkmacht gefunden. SPD und Grüne haben ihren Widerstand aufgegeben, Geflohene selbst an die Regime in Syrien und Afghanistan abzuschieben. Während 2001 die repressive Politik der Taliban noch Rechtfertigung für einen Krieg mitsamt militärischer Besatzung diente, verhandelte Kanzler Scholz jüngst mit dem usbekischen Regime über die Möglichkeit, über Usbekistan Afghanen abschieben zu können.
  11. Der Irrsinn dabei: Zugleich wurde über ein Fachkräfteanwerbungsprogramm mit Usbekistan verhandelt. Auch mit dem kenianischen Präsidenten wurde zugleich über die Anwerbung von Arbeitskräften und die Rückführung von unerwünschten Kenianern gesprochen. Es zeigt sich, dass hier das wirtschaftliche Interesse an mehr Arbeitskräften zeitgleich mit einer politisch motivierten Sündenbockkampagne läuft.
  12. Unter dem Strich führt dies zu einer Stärkung der Befugnisse der Repressionsorgane. Flüchtlingen soll in Deutschland möglichst schlecht gehen, Abzuschiebende werden länger eingesperrt, an den Außengrenzen soll wieder kontrolliert werden. Dies ist nur der zugespitzte Ausdruck zunehmend autoritärer Tendenzen im deutschen Kapitalismus, die sich auch in dem Bestreben, eine „Antisemitismus“-Klausel zu schaffen. Diese Politik richtet sich gegen die Interessen der gesamten Arbeiterklasse: Der wachsende migrantisch Teil in den Belegschaften sollen sich so unsicher wie möglich fühlen; dies stellt effektiv eine Spaltung der Klasse dar und schwächt so ihre Widerstandskraft.
  13. Politischer Gewinner der letzten Wahlen war eindeutig die AfD. Dabei ist der Widerstand gegen die AfD beträchtlich. Zu Jahresbeginn hatten wir eine unvergleichlich breite und massenhafte Mobilisierung gegen die AfD, nachdem deren Ausweisungspläne auch für deutsche Staatsbürger mit migrantischen wurzeln bekannt wurden. Die Bewegung erreichte über Woche auch die kleinen und mittleren Orte der Republik, auch und gerade im Osten. Dies zeigt die zugrunde liegende Stimmung bei vielen Millionen Menschen, die die Gefahr erkennen, die von der AfD ausgeht und die sich gegen den drohenden Faschismus wehren wollen. Es ist klar, dass diese Stimmung auch in den Gewerkschaften verbreitet ist, auch wenn die Belegschaften vom Gift des Rassismus nicht unbeeinflusst sind. Die Grundlage für eine breite und kämpferische Bewegung gegen die AfD im Jahr 2025 ist gegeben.
  14. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza haben die vergangenen zwölf Monate auch in Deutschland geprägt, obgleich in beiden Fällen die Bundeswehr gar nicht kämpft. Doch die noch nie dagewesene Bereitschaft zur Intervention durch militärische Unterstützung und politische Parteinahme in beiden Konflikten hat Deutschland in einer Art gefühlte Kriegsbeteiligung gebracht. Tatsächlich handelt es sich bei dem Krieg in der Ukraine um einen Stellvertreterkrieg, der immer weiter eskaliert.
  15. Erst Anfang Oktober 2024 hat die lange Zeit gespaltene und gelähmte Linke es geschafft, eine größere Mobilisierung gegen die Nato-Eskalation in der Ukraine, gegen die US-Mittelstreckenstationierung und die Waffenexporte nach Israel und in die Ukraine hinzubekommen. Ungeachtet der Versuche der Ampelkoalition und der CDU/CSU, die Palästina-Solidarität zu kriminalisieren und die Friedensbewegung insgesamt zu diskreditieren, wird die weitere Eskalation in der Ukraine und im Nahen Osten das Entstehen neuer Mobilisierungen im Wahljahr begünstigen.
  16. Der Niedergang der Partei DIE LINKE hat sich fortgesetzt. Dies bestätigt unsere Analyse zur Gründung der RL und dem Bruch mit Marx21. Das ehemalige Lager der Partei DIE LINKE wird nun weitgehend vom BSW abgedeckt. Das BSW beteiligt sich an der rassistischen Debatte um Forderungen nach schnelleren Abschiebungen und hält zugleich der CDU die helfende Hand zur Bildung von Koalitionsregierungen in Thüringen und Sachsen hin.
  17. Die Gründe für die hohe Zustimmung zum BSW bei den Europa- und Landtagswahlen lagen indessen unter anderem in der Verbindung zwischen den Forderungen nach Abrüstung und der sozialen Frage. Sahra Wagenknecht hatte sogar explizit eine Koalition mit einer Partei ausgeschlossen, die für die Raketenstationierung ist und die Eskalation im Ukrainekrieg vorantreibt. Der Widerspruch in den Ansagen und der praktischen Politik des BSW wird unweigerlich zu einer Ernüchterung mit der Partei führen.
  18. Im Kampf gegen die AfD, aber auch den Aufrüstungskurs der Bundesregierung argumentieren wir für möglichst breite Bewegungen unter Einbeziehungen aller reformistischen Parteien – dies ungeachtet der Politik von SPD und Grünen, LINKE und BSW. Wir setzen an dem nach wie vor bestehenden Widersprüchen der Erwartungen der Wählerinnen und Wähler sowie Anhänger dieser Parteien mit der Politik der Parteiführungen an.










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