Was will Israel im Gazastreifen? Die Verwandlung des Küstenstreifens in eine Trümmerwüste zerstört jede Perspektive für diejenigen, die den grausamen Vernichtungsfeldzug der israelischen Streitkräfte überleben. Netanjahu verkündete, das zweite Kriegsjahr werde das Jahr das »totalen Sieges«. Der Plan zu seiner Umsetzung scheint bereits im Gang zu sein.
Von Karl Naujoks
Die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press (AP) meldete vorgestern: »Ein israelischer Luftangriff auf den Hofbereich eines Krankenhauses im Gazastreifen tötete mindestens vier Menschen und löste ein Feuer aus, das auf ein Zeltlager für Kriegsvertriebene übergriff. Mehr als zwei Dutzend Menschen erlitten schwere Verbrennungen…«
Bilder von AP zeigten Kinder unter den Verwundeten. Ein Mann trägt ein Kleinkind mit bandagiertem Kopf auf dem Arm und weint. Ein anderes kleines Kind mit einem bandagierten Bein wird auf dem Boden des überfüllten Krankenhauses eine Bluttransfusion gelegt. Laut der Leitung des Krankenhauses wurden vier Menschen getötet und 40 verwundet, 25 Menschen wurden mit schweren Verbrennungen in ein Krankenhaus im südlichen Gazastreifen verlegt.
Bilanz des Grauens
Berichte wie diese kommen mittlerweile nahezu täglich aus dem Gazastreifen. Israel greift seit einem Jahr gezielt Journalisten, Krankenhäuser und medizinisches Personal, Kirchen und Moscheen, humanitäre Hilfsorganisationen und Schulen an. Die israelischen Streitkräfte haben das Hauptquartier der UN in Gaza und unzählige Wohnhäuser in Schutt und Asche gelegt. Und schließlich haben sie mehrfach mit Bomben und Granaten Zeltlager attackiert.
Das sind nach UN-Standards allesamt Kriegsverbrechen, doch die rot-grün geführte Bundesregierung betrachtet die Unterstützung der Netanjahu-Regierung immer noch als Teil der deutschen ›Staatsräson‹.
In Zahlen: Über 42 000 Palästinenser wurden laut palästinensischem Gesundheitsministerium in Gaza getötet. Das dürfte eine sehr konservative Schätzung sein, da noch viele Leichen unter dem Schutt vermutet werden. Das renommierte Medizinjournal Lancet geht von mindestens vier unbeabsichtigte Toten auf einen beabsichtigt Getöteten aus. Mindestens die Hälfte der von Israel Getöteten sind Frauen oder Kinder. Rund 90% der 2,3 Millionen zählenden Bevölkerung im Gazastreifen floh vor dem Krieg innerhalb des eigenen Landes, viele dabei mehrfach. Weite Teile des Küstenstreifens gleichen einer Trümmerwüste.
Netanjahus Motivation
So unfassbar grausam die israelische Kriegsführung ist, so unklar waren die Pläne der israelischen Regierung für die Zeit danach. Wahrscheinlich hatte Netanjahu schlichtweg keinen Plan, sondern war getrieben von seinem Willen, die ›Gelegenheit‹ nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 für einen vernichtenden Angriff auf die gesamte palästinensische Bevölkerung zu nutzen.
Seit immer deutlicher wurde, dass er dafür auch das Leben der israelischen Geiseln zu opfern bereit war und ist, und dafür reichlich Widerstand innerhalb Israels bekam, ging es ihm vor allem um das eigene politische Überleben. Das erklärt jedenfalls die planmäßige Eskalation des Krieges gegen den Libanon und die Hisbollah, die nun auch vor Angriffen gegen dort stationierte UN-Soldaten nicht mehr Halt macht.
Der Plan der Generäle
Es mag keinen Plan für Gaza gegeben haben. Nun scheint einer umgesetzt zu werden, der von pensionierten Generälen und ranghohen Offizieren in der Knesset – dem israelischen Parlament – Ende September vorgestellt worden ist. Dieser ›Plan der Generäle‹ sieht die Abriegelung des nördlichen Drittels des Gazastreifens inklusive der Stadt Gaza vor, um die in den Trümmern verbliebenen Hamas-Anhänger auszuhungern.
Mit ihnen würden rund 400 000 Bewohner eingeschlossen werden. Die israelische Armee gibt ihnen eine Woche, das Gebiet zu verlassen. Danach würden alle verbleibenden Palästinenserinnen und Palästinenser als ›Kombattanten‹ eingestuft – und damit zu ›legitimen Zielen‹ für die Ermordung durch israelische Streitkräfte.
Offenbar hat die israelische Armee mit der Umsetzung des Plans der Generäle begonnen. Seit Monatsbeginn werden laut UN-Angaben kaum noch Hilfslieferungen in das betroffene Gebiet gelassen. Alle Bewohnerinnen und Bewohner des nördlichen Gazastreifens haben in der letzten Woche Evakuierungsaufforderungen erhalten, inklusive der in Krankenhäusern versorgten Patienten.
Vorbild Algerienkrieg
Dieser Plan entspricht der Kriegsführung der französischen Armee im Kolonialkrieg gegen Algerien (1954 – 1962). Damals wurden zum Höhepunkt des Konflikts mit der dort kämpfenden algerisch-muslimischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) fast ein Drittel des algerischen Territoriums zu ›verbotenen Zonen‹ erklärt, innerhalb derer jeder angetroffene Mensch als Angehöriger der als ›terroristisch‹ eingestuften FLN angesehen und getötet wird. Die Gebiete wurden aus der Luft bombardiert, unter anderem mit Napalm. Viele Hirten und andere Unbeteiligte blieben und zahlten das mit ihrem Leben. Die meisten aber flohen und siedelten sich völlig verarmt in den Slums der Städte an.
Das Problem der französischen Armee war, dass sie die FLN nicht unter der muslimisch-algerischen Bevölkerung erkennen konnte. Sie ging dann nach der genozidalen Logik vor: Du kannst einen Fisch im See nicht durch einzelne Schwerthiebe töten, du musst den gesamten See austrocknen. Das versucht die israelische Armee nun zu kopieren.
Doch in einem unterscheiden sich die Kolonialkonflikte in Algerien und Palästina. Während Frankreich die algerischen Muslime als Bürger zweiter Klasse innerhalb der Kolonie behalten wollte, verfolgt Israel die zionistische Idee, die palästinensische Bevölkerung aus dem angeeigneten Gebiet herauszudrängen.
Die israelische Regierung will am Ende ein möglichst ›ethnisch reines‹ Gebiet schaffen, in der die jüdische Bevölkerung 80 Prozent oder mehr der Einwohner stellt. Das sagt die israelische Staatsführung auch ganz offen. Die gesamte Berichterstattung in den deutschen Medien ist darauf ausgerichtet, diese Zielsetzung der israelischen Politik zu verschleiern.
Bereits zu Beginn des Krieges hat RevoLinks argumentiert, dass auch der aktuelle Krieg um Gaza nur ein weiterer Krieg in dieser jahrzehntelangen Saga der Vertreibung der ursprünglich ansässigen arabischen Bevölkerung im historischen Palästina darstellt. Ein Beleg dafür ist, dass im Schatten des Gazakriegs auch im Westjordanland systematisch arabische Siedlungen von radikalen Siedlern angegriffen und ›ethnisch gesäubert‹ werden, ohne dass die Hamas dort irgendeinen Einfluss hätte.
»Besser sterben als gehen«
Bislang war nicht klar, wie diese Fortsetzung der Vertreibung innerhalb eines Küstenstreifens um Gaza-Stadt umgesetzt werden soll, solange Millionen dort eingepfercht sind und die ägyptische Armee die Südgrenze abriegelt. Der Plan der Generäle scheint aus Sicht der israelischen Strategen die Antwort zu sein.
Doch auch nach der Evakuierungsorder scheinen viele nicht zur Flucht bereit zu sein. Einige sind zu alt, zu krank oder haben Angst, ihre Häuser zu verlassen. Aber die Meisten befürchten, dass es nirgendwo sicher ist und dass sie niemals zurückkehren dürfen. Israel hat bereits viele, die vor dem Krieg geflohen sind, gehindert, nach Gaza-Stadt zurückzukehren.
Jomana Elkhalili, eine 26-jährige palästinensische Entwicklungshelferin, die für Oxfam arbeitet, sagte Journalisten von AP: »Alle Bewohner Gazas haben Angst vor dem Plan. Trotzdem werden sie nicht fliehen. Sie werden den Fehler nicht noch einmal begehen … Wir wissen, dass es dort nicht sicher ist«. Dabei bezog sie sich auf den südlichen Gazastreifen – dort, wo der Großteil der Bevölkerung in trostlosen Zeltlagern zusammengepfercht lebt und Luftangriffe häufig ihre Unterkünfte treffen.
»Deshalb sagen die Menschen im Norden, dass es besser ist zu sterben als zu gehen.«
Der ›Architekt‹ des Plans der Generäle, Giora Eiland, ehemals Präsident des israelischen Nationalen Sicherheitsrates, sieht darin kein Problem. Er geht davon aus, dass der Vorenthalt von Wasser, Nahrung und Medizin ihren mörderischen Zweck erfüllt: »Entweder werden sie aufgeben oder verhungern«. Eiland weiter: »Das heißt nicht, dass wir unbedingt jede einzelne Person töten müssen. Das wird nicht notwendig sein. Die Menschen werden dort [im Norden] einfach nicht mehr leben können. Ihnen wird das Wasser ausgehen.«
Die israelische Regierung wolle nach Umsetzung des Plans auf unbestimmte Zeit die Kontrolle über den Norden behalten und den Gazastreifen zunächst in zwei Gebiete teilen. Wenn die Strategie im Norden funktioniert, kann sie in anderen Teilen des Küstenstreifens wiederholt werden, auch in den Zeltstädten der Flüchtlinge im Süden.
Protest gegen Biden in Berlin
Am vergangenen Montag hat ein Bündnis verschiedener israelischer Menschenrechtsorganisationen, darunter B’Tselem, Gisha, Yesh Din and Physicians for Human Rights-Israel, davor gewarnt, es gäbe »alarmierende Anzeichen, dass das israelische Militär« den Plan nun heimlich umsetzt. Sie appellierten an die Staaten der Welt, sie hätten die Verpflichtung, Verbrechen wie Aushungerung und gewaltsame Vertreibung zu verhindern. Warteten sie weiter ab, würde Israel den nördlichen Gazastreifen auslöschen.
Das Problem ist offenkundig: Die Staaten der Welt warten nicht nur ab – sie beteiligen sich am Völkermord.
Die Rüstungsexporte aus Deutschland hatten sich in den ersten Monaten des Kriegs verzehnfacht. Nach der Anklage durch Nicaragua wegen Beihilfe zum Völkermord beim Internationalen Gerichtshof fuhr die Bunderegierung klammheimlich die Genehmigungen ab März zurück. Nach offener Kritik durch CDU-Chef Merz, bei dem sich die Vorstandsvorsitzenden deutscher Rüstungsunternehmen beschwert hatten, erklärte Kanzler Scholz im Bundestag in der letzten Woche, Deutschland würde weiter Waffen an Israel liefern.
Doch niemand hat den Völkermord mehr unterstützt als die Vormacht des ›Westens‹, die USA. Im ersten Jahr des Krieges lieferte sie der israelischen Regierung Rüstungsgüter, Waffen und Munition im Wert von 17,9 Milliarden Dollar.
Nun kommt der dafür Hauptverantwortliche – US-Präsident Biden – zum Staatsbesuch nach Berlin. Grund genug, gegen den Völkermord in Gaza und die Waffenlieferungen an Israel zu demonstrieren.
Unter dem Motto Genocide Joe: Not Welcome werden sich Gruppen aus der Palästina-Solidaritätsbewegung gemeinsam mit linken Gruppen am 18. Oktober ab 17 Uhr am Alexanderplatz versammeln und mit einem gemeinsamen Demonstrationszug zum Brandenburger Tor gegen die US-amerikanische und deutsche Unterstützung des Völkermords im Gazastreifen protestieren. Die Revolutionäre Linke unterstützt diesen Aufruf.
Schlagwörter: Gaza, Netanjahu, Vertreibungsplan