Nach der jahrzehntelangen blutigen und repressiven Diktatur ist das Assad-Regime gestürzt. Bashar al-Assad, der das Land seit dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 regiert hat, floh aus der Hauptstadt Damaskus. Überall auf der Welt strömten Syrerinnen und Syrer jubelnd auf die Straßen. Ein historischer Moment in der Geschichte Syriens – doch die Zukunft des Landes ist unklar. Die wichtigsten Fragen zu Syrien nach dem Sturz von Bashar al-Assad beantworten wir in diesem Artikel.
Syrerinnen und Syrer weltweit feiern den Sturz des Assad-Regimes nach mehr als fünf Jahrzehnten blutiger und repressiver Diktatur: Bashar al-Assad, der das Land seit dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 regierte, floh am vergangenen Sonntag aus der Hauptstadt Damaskus nach Russland. Hayat Tahrir al Sham (HTS), eine bewaffnete islamistische Gruppe, startete Ende letzten Monats eine Blitzoffensive gegen das Assad-Regime. Nach der Erstürmung der nördlichen Stadt Aleppo rückte die HTS nach Süden in Richtung Damaskus vor und eroberte die Hauptstadt.
Damit wurde der lange andauernde Bürgerkrieg erneut entfacht, den Assad dazu genutzt hatte, die Revolution von 2011 in Blut zu ertränken. Seitdem haben rivalisierende imperialistische Mächte in dem Land interveniert.
Nachdem die HTS Damaskus eingenommen hatte, stürmten die Menschen den Präsidentenpalast und plünderten das Symbol der korrupten Diktatur Assads. Die Rebellen übernahmen die Kontrolle über die staatlichen Medien, um ihren Sieg zu verbreiten. Zudem öffneten sie die Gefängnisse und Folterkammern des Regimes.
Auf der ganzen Welt, von Washington DC über Berlin bis Istanbul, strömten Syrerinnen und Syrer jubelnd auf die Straßen.
Was war das Assad-Regime?
General Hafez al-Assad, der Vater von Bashar al-Assad, ergriff 1971 die Macht und errichtete eine brutale, korrupte Diktatur. Die arabisch-nationalistische Baath-Partei war 1963 durch einen Militärputsch an die Macht gekommen, und bei einem weiteren Putsch 1966 übernahm der linke Teil der Partei die Macht. Sie versprach eine staatlich gelenkte kapitalistische Entwicklung, soziale Reformen und verwies auf das stalinistische Russland. Nach der Niederlage Syriens gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967 ging der rechte Teil der Baath-Partei zum Angriff über. Verteidigungsminister Hafez al-Assad startete einen weiteren Putsch.
Er baute ein neues Regime auf, das auf einem Kompromiss zwischen den neuen und den alten Ausbeutern – der Schicht der staatskapitalistischen Bürokraten und den alten städtischen Kapitalisten und Grundbesitzern – beruhte. Zu den oberen Schichten des Assad-Regimes gehörten viele Aleviten und andere religiöse und ethnische Minderheiten. Es wurde aber auch vom sunnitischen Teil der Kapitalistenklasse unterstützt.
Trotz der sozialistischen Rhetorik des Regimes konzentrierte Assad die politische und wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleinen Zahl von Staatsbeamten. In den 1970er und 80er Jahren war das Assad-Regime stark auf die Unterstützung des stalinistischen Russlands angewiesen, das Waffen, Kredite und Subventionen lieferte. Ab den späten 1980er Jahren schlug das Assad-Regime einen ähnlichen Weg ein wie andere arabische nationalistische Regime, die einen staatskapitalistischen Weg eingeschlagen hatten.
Dann begann Assad mit der Umsetzung neoliberaler Reformen, die auf den Aufbau eines Privatsektors auf Kosten der einfachen Menschen abzielten. Bashar al-Assad, der im Jahr 2000 die Nachfolge seines Vaters antrat, setzte weitere ›Reformen‹ durch und bemühte sich um eine Annäherung an den Westen. So arbeitete er beispielsweise im Krieg gegen den Terror mit den Vereinigten Staaten zusammen.
Sein Programm zur wirtschaftlichen Liberalisierung führte zu einem Zustrom ausländischen Kapitals aus den Golfstaaten. Der wiederum setzte einen Immobilienboom in Gang, der die Mittelschicht und die arbeitende Klasse mit zunehmend höheren Preisen immens unter Druck setzte.
Partnerschaften von öffentlichen und privaten Investoren schufen eine neue Schicht von Kapitalisten einer Vetternwirtschaft, wobei die Reichen von einem Zwei-Klassen-System im Bildungs- und Gesundheitswesen profitierten. Das wiederum verschärfte den Klassenkonflikt in Syrien.
Was war die syrische Revolution von 2011?
Wie in Ägypten und Tunesien gab es auch in Syrien Massenaufstände im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings. Im März 2011 entführte die Polizei Jugendliche, die an die Wand ihrer Schule geschrieben hatten: ›Das Volk will das Regime stürzen‹.
Die folgenden Proteste gewannen schnell an Unterstützung und Bedeutung. Bashar al-Assad trat in die Fußstapfen seines Vaters, als er versuchte, die Aufstände in Blut zu ertränken und auf Demonstranten schießen ließ und Aktivisten ins Visier nahm und inhaftierte.
Es wurde jedoch klar, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen würde. Assads Streitkräfte begannen, die aufständischen Städte zu belagern und Wohngebiete zu bombardieren, um das soziale Gefüge der Revolution zu zerstören. Zudem ging Assad dazu über, die konfessionellen Spaltungen unter den rebellischen Massen zu verschärfen.
Als syrische Soldaten sich weigerten, auf Demonstrierende zu schießen, bildeten die Menschen Milizen, um ihre Viertel zu verteidigen. Sie gaben sich den Namen Freie Syrische Armee (FSA), aber es handelte sich um eine zersplitterte Organisation ohne zentrale Führung.
Ab 2012 holte sich Assad imperialistische Unterstützung. Russische Jets bombardierten syrische Städte, der Iran schickte seine Streitkräfte und die libanesische Widerstandsgruppe Hisbollah intervenierte. Als Syrien immer tiefer in den Bürgerkrieg stürzte, formierten sich bewaffnete islamistische Gruppen. Sie drängten den Charakter der Revolution in Richtung des bewaffneten Widerstands und weg von ihrer Massenbasis, der Bevölkerung. Doch trotz der Brutalität des Bürgerkriegs gab es sogar noch im letzten Jahr Proteste der syrischen Bevölkerung.
Was ist Hayat Tahrir al Sham (HTS)?
Jabhat al Nusra wurde 2011 als sunnitische islamistische bewaffnete Gruppe gegründet, die Gebiete eroberte und der Bevölkerung ihre reaktionären Ansichten aufzwang. Die Gruppe war mit Al-Qaida verbunden, löste sich aber 2016 von der Organisation. Nach einer Reihe von Fusionen entstand 2017 die Hayat Tahrir al Sham (HTS). Im Gegensatz zu einigen anderen Formen des Dschihadismus verfolgt HTS nationalistische Ziele und will die Kontrolle über Syrien übernehmen, anstatt ein transnationales muslimisches Kalifat zu errichten.
Vor dem Sturz des Assad-Regimes kontrollierte die HTS große Teile Nordwestsyriens. Die Syrische Heilsregierung, die von der HTS unterstützt wird, stellt in diesen Gebieten öffentliche Dienstleistungen bereit, aber es gab Proteste gegen die Regierungsführung der HTS aufgrund ihrer reaktionären Politik. Die HTS wird seit 2017 von Abu Mohammed al-Jolani angeführt und ist in westlichen Staaten verboten.
Wie wirkt sich der Sturz von Assad auf den Imperialismus aus?
Das verworrene Netz imperialistischer Spannungen in Syrien ist nach dem Sturz des Regimes ins Chaos gestürzt. Die konkurrierenden Mächte werden nun versuchen, ihre Interessen zu schützen, indem sie versuchen, sich in das neue Regime zu integrieren. Aber möglicherweise werden sie ihre Ziele nicht erreichen können.
Der Iran, ein wichtiger Unterstützer von Assad, hat bereits versucht, sich von seinem zusammengebrochenen Regime zu distanzieren. Präsident Masoud Peseschkian sagte am vergangenen Sonntag: »Es ist das syrische Volk, das über die Zukunft seines Landes und seines politischen und staatlichen Systems entscheiden muss«.
Während Russland Assad in Moskau Unterschlupf gewährt, hat die HTS Berichten zufolge die Sicherheit der russischen Militärstützpunkte in Syrien garantiert.
Die Verteidigung des Assad-Regimes durch Iran als auch durch Russland war in jüngster Zeit weniger stark, weil Russland in der Ukraine Krieg führt und der Iran von Israel angegriffen wurde. Es ist klar, dass beide Seiten versuchen, Zugeständnisse an das neue Regime in Syrien zu machen, aber es ist unklar, wie sich das auswirken wird.
Die Türkei unterstützte die Offensive von HTS. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wollte seinen Rivalen Assad schwächen – mit dem Ziel, Kurdinnen und Kurden im Nordosten Syriens weiter zu unterdrücken.
Doch nachdem die HTS Assad gestürzt hatte, forderten kurdische Kämpfer eine ›Deeskalation‹ des Konflikts und ein ›neues Syrien‹ mit Rechten für alle. Erdoğan hat keine Garantie, dass er bekommt, was er will.
Was wird mit Israel und Palästina geschehen?
Der HTS-Führer al-Jolani sagte, er habe sich von der zweiten palästinensischen Intifada im Jahr 2000 inspirieren lassen. Es ist unwahrscheinlich, dass die HTS ihre Beziehungen zu Israel angesichts des Völkermords im Gazastreifen normalisieren wird. Israel ist in syrische Gebiete auf den Golanhöhen vorgedrungen, die zwischen Nordisrael und Südwestsyrien liegen. Nach dem Sturz Assads marschierten die israelischen Streitkräfte in die entmilitarisierte Pufferzone ein.
1974 kam es zu einem Rückzugsabkommen zwischen Syrien und Israel, doch der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte, dieses Abkommen sei durch den Sturz Assads hinfällig geworden. Netanjahu nutzt die Instabilität in Syrien, um Israels Einfluss im Nahen Osten auszuweiten. Am Sonntag bombardierte Israel Damaskus und zielte dabei auf Waffendepots. Israel behauptet, dass es potenzielle Bedrohungen in Syrien abwehrt, aber mit der Beschlagnahmung syrischer Gebiete auf dem Golan ist klar, dass Israel seine brutale Kriegstreiberei eskalieren lässt, um seine Unterstützung durch den westlichen Imperialismus weiter zu festigen.
Aber was ist mit den Kurdinnen und Kurden?
Das Assad-Regime hat die Arabisierung des Landes vorangetrieben und kurdische Bauern von ihrem Land vertrieben, um Platz für Araberinnen und Araber zu schaffen. Es verbot den Gebrauch der kurdischen Sprache und unterdrückte alle Formen der kurdischen Kultur. Gleichzeitig nutzte Hafez al-Assad die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die für die Befreiung der Kurden in der Türkei kämpfte, als Druckmittel gegen seinen Nachbarn. Doch 1998 vertrieb Assad auf Druck der Türkei den PKK-Führer Abdullah Öcalan und seine Partei aus Syrien.
Während der syrischen Revolution von 2011 kämpften die PYD-Partei und ihre YPG-Kräfte für die Errichtung kurdisch kontrollierter Gebiete in Syrien. Diese Kämpfe führten 2016 zur Gründung der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien, bekannt als Rojava.
Aber auch die kurdischen Befreiungsbemühungen haben eine Geschichte der Verstrickung mit dem westlichen Imperialismus. Im Jahr 2014, als die syrische Revolution ins Stocken geriet, wurde die YPG zum wichtigsten Teil der Syrian Democratic Force (SDF). Die SDF war eine von den USA unterstützte Koalition aus kurdischen, arabischen, assyrischen, armenischen, turkmenischen und tscherkessischen Milizen, die gegen ISIS und Jabat al-Nusra kämpften. Heute, da die Kurden versuchen, ihre Autonomie in Rojava zu verteidigen, scheint der Ko-Vorsitzende der PYD, Salih Muslim, die HTS auf ihrem Vormarsch nach Damaskus zu unterstützen.
Obwohl die HTS im Zuge ihrer Blitzoffensive gegen das Assad-Regime kurdische Gemeinden angegriffen hat, versuchen kurdische Kräfte die Kontrolle über ihre autonome Region zu behalten. Das könnte zu Spannungen mit einem HTS-Regime führen. Erdoğan wird wohl versuchen, Beziehungen zur HTS aufzubauen, um die syrischen Kurdinnen und Kurden zu unterdrücken.
Donald Trump, der im Januar eine zweite Amtszeit antreten wird, zögert noch, in Syrien einzugreifen. Aber er unterstützt Erdoğans Regime, was den Kampf der Kurdinnen und Kurden weiter in Ungewissheit stürzt.
Die kurdische Unabhängigkeit wird eine Wiederbelebung des Geistes der syrischen Revolution erfordern – das bedeutet: Massenwiderstand von unten, frei von den Einflüssen imperialistischer Mächte.
Dieser Artikel von Arthur Townend ist eine Übersetzung aus britischen Wochenzeitung Socialist Worker. Übersetzung von Frank Dunne.
https://socialistworker.co.uk/international/syria-explainer-revolution-civil-war-and-assads-fall/