Syrische Sozialisten sprachen mit Anne Alexander über die Aussichten für den Widerstand der Arbeiterklasse und den Aufbau einer neuen Linken inmitten zunehmender konfessioneller Spannungen – und nach langen Jahren der Diktatur und des Bürgerkriegs.
Drei Monate nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad steht Syrien am Rande eines erneuten aufflammenden Bürgerkriegs entlang konfessioneller Linien. In der vergangenen Woche kam es zu einer tödlichen Spirale bewaffneter Zusammenstöße von Gruppen, die mit dem alten Regime in Verbindung stehen, und den Sicherheitskräften des neuen Regimes. Das neue Regime der bewaffneten islamistischen Gruppe Haiʾat Tahrir asch-Scham (Komitee zur Befreiung Syriens – HTS), die Assad im Dezember gestürzt hat, entfesselte eine Welle konfessionell motivierter Morde in der nordwestlichen Küstenregion. Ihr Ziel war die religiöse Minderheit der Alawiten, aus der auch die Familie Assad stammt.
»Die Täter durchsuchten Häuser und fragten die Bewohner, ob sie Alawiten oder Sunniten seien, bevor sie sie dementsprechend töteten oder verschonten«, heißt es in Untersuchungen der Vereinten Nationen. Diese Massaker folgten auf Angriffe auf Krankenhäuser in Latakia, Tartus und Baniyas durch bewaffnete Männer, die Berichten zufolge mit den Sicherheitskräften des Assad-Regimes in Verbindung stehen.
Zum Verständnis der heutigen Ereignisse ist die Geschichte der Revolution und Konterrevolution in Syrien maßgebend. Die Führer des neuen Regimes, darunter Ahmad al-Schar’a, versprachen eine Untersuchung der Morde. Doch viele der in der HTS organisierten bewaffneten Gruppen betrachten die konfessionelle Hetze als eine wichtige Rekrutierungsstrategie. Sie entspricht der Taktik, die das Assad-Regime vor 14 Jahren verfolgte. Assad hat seit dem Jahr 2000 über Syrien geherrscht, nachdem er die Macht von seinem Vater übernommen hatte.
Doch im März und April 2011 erhoben sich Zehntausende Syrer, um sich von dieser Diktatur zu befreien. Assad reagierte, indem er einen konfessionellen Bürgerkrieg entfesselte, der die Einheit des Widerstands untergraben und die Volksrevolution in Blut ertränken sollte. Es folgte über ein Jahrzehnt Krieg, in dem imperialistische Mächte und bewaffnete Gruppen das Land auseinandergerissen haben.
Doch inmitten der Gräuel gibt es Hoffnung nach dem Sturz Assads. In Damaskus und Suwayda kam es zu Demonstrationen gegen die konfessionelle Gewalt. Und es regte sich bereits Widerstand gegen die neue Regierung, die neoliberale Reformen wie Privatisierungen und Massenentlassungen vollstreckt. Einen alternativen Weg nach vorn weisen Arbeiterinnen, Arbeiter und Arme, die sich über konfessionelle Grenzen hinweg gegen die Spitzenpolitiker organisieren.
Aufbau einer neuen Linken
Radikale Aktivisten versuchen, breitere Bündnisse zu schmieden. Sie arbeiten mit Kräften der Linken sowie mit Menschenrechts-, Frauen- und Jugendorganisationen zusammen. Die Strömung der Revolutionären Linken (RLC), andere linke Parteien und die Vereinigung der Opfer von Verschleppung unterzeichneten im Januar eine Erklärung. Unter der Parole ›Nein zu Gewalt, Sektierertum und ausländischen Interventionen‹ riefen sie in dieser Erklärung zur Einheit auf.
Das Bündnis warnt vor Versuchen, die Unterdrückung religiöser Gruppen und persönliche Abrechnungen unter dem Deckmantel der ›Entfernung von Elementen des alten Regimes‹ zu vertuschen. Es betont die entscheidende Rolle, die unabhängige politische Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen in den Auseinandersetzungen über die Zukunft Syriens spielen.
Syrien drohen viele Gefahren, nicht zuletzt die weiterer ausländischer Militärinterventionen von allen Seiten – unter anderem von türkischen Truppen im Norden Syriens und den großen US-Stützpunkten im Nordosten.
»Die palästinensische Sache ist ein Thema von internationaler Bedeutung, aber sie betrifft insbesondere die arabische Nation und Syrien«
Auch Israel hat seine militärische Kontrolle bis in den Süden Syriens ausgeweitet, was eine neue Welle des Widerstands und der Solidaritätsproteste mit dem syrischen und dem palästinensischen Volk unter israelischer Besatzung ausgelöst hat.
Adil, ein syrischer sozialistischer Aktivist in der RLC meint: »Die palästinensische Sache ist ein Thema von internationaler Bedeutung, aber sie betrifft insbesondere die arabische Nation und Syrien. Der imperialistische Feind Israel ist ein lebendes Beispiel für das Versagen des tyrannischen kapitalistischen Systems. Angesichts der zahlreichen Verstöße Israels in der Vergangenheit ist es unwahrscheinlich, dass seine Ansprüche durch seine Verbrechen an den Palästinenserinnen und Palästinensern befriedigt werden. Das wird jetzt durch den Vormarsch der israelischen Armee auf syrisches Gebiet und die Errichtung von Militärstützpunkten dort deutlich. Die palästinensische Sache muss für alle in Syrien im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, da Israel eine Bedrohung für die gesamte arabische Welt und eine Verletzung der Rechte unserer palästinensischen Geschwister darstellt.«
RLC-Aktivisten organisieren sich, um im Rahmen der breiteren Wiederbelebung demokratischer und linker Bewegungen in Syrien eine größere und besser verwurzelte revolutionäre sozialistische Organisation aufzubauen. Die RLC ist eine sozialistische Partei, die sich während Assads Herrschaft im syrischen Untergrund und im Exil organisiert hat. Eine der Herausforderungen, vor denen sozialistische Aktivisten stehen, ist das Vakuum, das durch die Unterdrückung jeglicher unabhängiger politischer Aktivität durch das alte Regime entstanden ist. In den kommenden Monaten und Jahren ist es entscheidend, die kleinen Kräfte der Linken zu vereinen und für Forderungen zu kämpfen, die den einfachen Menschen wichtig sind.
»Unsere Befreiung muss vollständig sein – Befreiung von der ausländischen Besatzung und Befreiung von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Hunger in Syrien«
Adil betont: »Das Ziel der Linken muss es sein, in der Mehrheit der Provinzen eine Massenbasis unter der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Sie muss sich auf die lokalen Gemeinden konzentrieren, die normalerweise vergessen werden. Und sie muss linke Ideen verbreiten, die sich auf die aktuelle Situation beziehen. Wir müssen daran arbeiten, möglichst viele Mitglieder zu gewinnen und Bündnisse mit verschiedenen Parteien zu bilden, um die gemeinsamen Zielen der syrischen Linken zu verwirklichen.«
Adil und seine Mitaktivisten Hala und Sami vom RLC sind sich einig, wie wichtig Einheit und Präsenz auf der Straße sind. »Zunächst müssen wir uns mit allen Bevölkerungsgruppen in ganz Syrien auf der Straße organisieren und das Vakuum füllen«, sagen sie. »Wir müssen das Bewusstsein schärfen und den Ängsten der Menschen entgegentreten. Wir müssen ihnen solide und wirksame Methoden an die Hand geben, mit denen sie ihr Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit verteidigen können.«
Alle drei fügen hinzu, dass der Widerstand gegen die israelische Besatzung ein integraler Bestandteil dieses Kampfes ist: »Unsere Befreiung muss vollständig sein – Befreiung von der ausländischen Besatzung und Befreiung von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Hunger in Syrien«.
Arbeiterinnen und Arbeiter fordern ihre Rechte, während neue Politiker die Privatisierung vorantreiben
Samir und Hala, zwei Aktivisten der Revolutionären Linken Strömung, sprachen mit Anne Alexander und Khalid Sidahmed über die Organisierung von Arbeitern
Samir
Die HTS-Regierung hat sich von Anfang an für eine freie Marktwirtschaft entschieden. Seit vier Monaten werden den Arbeitern keine Gehälter mehr ausgezahlt. Zahlreiche Arbeiter wurden willkürlich entlassen, ohne dass es Beweise dafür gab, dass sie Anhänger des Assad-Regimes waren. Daneben wird eine weitere Methode zur Reduzierung der Zahl der Beschäftigten genutzt: Zwangsbeurlaubung.
Die Preise sind im Vergleich zu früher deutlich gestiegen. Subventionen für Grundnahrungsmittel wie Brot und Öl wurden gestrichen. Die betroffenen Teile der Arbeiterschaft demonstrierten zunächst einzeln. Vor jeder Entscheidung über die Streichung eines Arbeitsplatzes demonstrierten sie mit zehn oder zwölf Arbeitern.
Nachdem die Arbeiterinnen und Arbeiter erkannt hatten, dass diese Probleme weite Kreise der Bevölkerung betrafen und die kleinen Demonstrationen wirkungslos waren, beschlossen sie, ihre Bemühungen in einer gemeinsamen Aktion über alle Regionen und Branchen hinweg zu bündeln. Die Demonstrationen fanden nun vor den Gebäuden des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes in den einzelnen Regierungsbezirken statt.
Am 15. Februar begann diese Partnerschaft zu greifen und wurde vor Ort umgesetzt. In mehreren Gebieten, darunter Damaskus, Aleppo, Latakia und Suweida, fanden Demonstrationen statt.
Unter dem alten Regime wurden alle Gewerkschaften vollständig von der Regierung kontrolliert. Nach dem Sturz Assads erkannten die Arbeiter, dass sie sich wieder organisieren konnten, um gemeinsame Rechte einzufordern. Die Strukturen der alten Gewerkschaften bestehen weiterhin und sind aktiv bei der Organisation von Diskussionsveranstaltungen und Protesten. Viele der an den aktuellen Demonstrationen teilnehmenden Arbeiterinnen und Arbeiter sind Gewerkschaftsmitglieder.
Doch die Gewerkschaftsführungen reagieren nicht, weil die neue Regierung die Funktionäre des alten Regimes einfach durch ihre eigenen Gefolgsleute ersetzt hat. Vor dem Sturz Assads während des Bürgerkriegs gab es zwar einige Diskussionen innerhalb der Gewerkschaften, doch wurden sie nie zu Protesten. Die Proteste beschränkten sich größtenteils auf die von der Opposition kontrollierten Gebiete, wie etwa die Umgebung von Aleppo und später Suweida. In diesen Gebieten spielten die Gewerkschaften bei den Protesten eine koordinierende Rolle.
Wir konnten eine Beteiligung von Berufsverbänden aus Suweida, der Anwaltskammer aus Gebieten unter Kontrolle der vormaligen Opposition, der Lehrergewerkschaft und der Gewerkschaft der Müllarbeiter verzeichnen.
Diese Gewerkschaften hatten einige Erfahrung mit der Organisation von Protesten und Streiks für höhere Löhne, bessere Beschäftigungsmöglichkeiten und andere dringende Arbeitsfragen. In den länger vom alten Regime kontrollierten Gebieten fehlte ein solcher Aktivismus jedoch völlig.
Hala
Ich bin der Meinung, dass die Gewerkschaften heute alle Fragen ansprechen sollten, die die Arbeitnehmer betreffen. Sie sollten nicht nur ihre Lebensbedingungen aufgreifen, sondern auch soziale Fragen.
Wir als Arbeiterinnen und Arbeiter sollten die Gewerkschaften als Instrument nutzen, um für alle Anliegen zu kämpfen. Insbesondere während der Kriegsjahre waren syrische Frauen überall präsent.
Bei den Arbeiterdemonstrationen am 15. Februar waren ebenfalls viele Frauen vertreten, sogar in der unabhängigen Gewerkschaft, in der wir jetzt aktiv sind.
Es gibt junge Aktivistinnen. Ich kann nicht sagen, dass jemand Erfahrung mit Gewerkschaftsarbeit in Syrien hat, weil wirkliche Gewerkschaftsarbeit unter Assad nie in Angriff genommen worden ist.
Aber immerhin gibt es jetzt den Wunsch und die Motivation, und viele Frauen nehmen überall teil. Das ist ehrlich gesagt ermutigend.
Vielleicht liegt es am Krieg und daran, dass Frauen überall gearbeitet haben, dass sich unsere Rolle vor Ort praktisch nicht von denen der Männer unterscheidet.
Zu wissen, dass wir nicht allein sind, ist entscheidend. Die Behörden nutzen die vom Regime geschaffenen Abgrenzungslinien aus und versuchen, die Arbeiterklasse entlang konfessioneller und ethnischer Grenzen zu spalten. Die Solidarität von Genossinnen und Genossen außerhalb Syriens verleiht uns Legitimität und ein Gefühl der Einheit.