Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen eng mit dem Kapitalismus verwoben ist. Und dass der Paragraf 218 sich nur im Kontext großer Klassenkämpfe zu Fall bringen lässt.
Der Paragraf 218 wurde mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Er legte fest, dass eine »Frau, die ihre Leibesfrucht abtötet oder die Abtötung durch einen anderen zulässt, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft« wird. Jene, die bei der Abtreibung halfen, drohten in »schweren Fällen« bis zu zehn Jahren Haft.
Ende des 19. Jahrhunderts brauchte das sich rasch entwickelnde Deutsche Reich immer mehr Arbeitskräfte in Industrie und Bergbau – und Männer für die Armee. Frauen sollten so viele Kinder wie möglich gebären. Denn viele Kinder starben aufgrund der schlechten Versorgung im jungen Alter. Die Ausbeutung in den Fabriken war derart rücksichtslos, dass mit dem Lebensstandard auch die Geburtenraten sanken. Der §218 sollte dem entgegenwirken.
Das Abtreibungsverbot war Teil einer Bevölkerungspolitik, die die Leibesfrucht schützt, um sie im erwachsenen Alter als Kanonenfutter einzusetzen. Frankreich, England, Deutschland: In allen imperialistischen Staaten machten sich die Ideologen Ende des 19. Jahrhunderts Gedanken darum, wer mehr Soldaten mobilisieren könnte. 1914 brach dann der Erste Weltkrieg aus. Als er vier Jahre später zu Ende war, hatten rund 11 Millionen ihr Leben auf den Schlachtfeldern gelassen.
Beseelung der Föten
Vor der Reichsgründung 1871 galt in vielen der 37 deutschen Länder eine mildere Auslegung, was Abtreibungen betraf. Die katholische Kirche verfocht die Lehre, wonach der männliche Fötus 40 Tage, der weibliche Fötus 80 Tage nach der Zeugung beseelt werde. Bis zu diesem Zeitpunkt war Abtreibung erlaubt. Die Idee, dass Abtreibung vom ersten Tag der Zeugung an eine Sünde gegen die göttliche Ordnung sei, wurde von Papst Pius XI. erst 1869 ›entdeckt‹. Diese Idee spiegelte sich im Strafgesetzbuch des neuen Deutschen Reichs wider.
Der §218 war das Produkt des aufsteigenden industriellen Kapitalismus und der Herausbildung eines Zentralstaates, der alle Bereiche des Lebens zu regeln trachtete. Er war Teil einer repressiven Sexualmoral, die in katholischer wie protestantischer Kirche wichtige Ideologieträger fand. Neben dem Schwangerschaftsabbruch wurde auch Empfängnisverhütung zur Sünde erklärt.
Der Staat versuchte, tief in das Leben der Arbeiterklasse einzugreifen, um sie besser kontrollieren zu können. Die Unterdrückung der Frau und der Versuch, den Schwangeren die Kontrolle über ihren Körper zu entziehen, war Teil dieser Herrschaft über die gesamte Klasse.
KPD an der Spitze der Bewegung
Das erklärt auch, warum nicht bürgerliche Frauenrechtlerinnen, sondern die in der deutschen Revolution von 1918 entstandene Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) an der Spitze der ersten Bewegung gegen den §218 stand. Unter der Parole ›Dein Körper gehört dir!‹ mobilisierte die KPD in der Weimarer Republik der 1920er Jahre Massen gegen das Abtreibungsverbot.
In Berlin fanden Versammlungen von bis zu 15 000 Menschen statt. Bei etwa 150 solcher Massendiskussionsveranstaltungen wurde in ganz Deutschland darüber debattiert, warum der §218 ein Klassenparagraf ist und abgeschafft gehört.
Der Mediziner Friedrich Wolf war KPD-Mitglied. Er schrieb ein Theaterstück mit dem Titel. „Zyankali“. Es wurde von 800 Schauspielgruppen in ganz Deutschland aufgeführt. Darin geht es um eine junge Arbeiterin, die schwanger wird und sich am Ende aus Verzweiflung selbst vergiftet.
Die KPD konnte sich in der Weimarer Republik nicht durchsetzen. Erst verhinderte die Mehrheit aus Liberalen, Konservativen und Sozialdemokraten die Liberalisierung des Abtreibungsverbots. Dann kamen die Nazis und schafften jede Freiheit wieder ab. Es hätte eine zweite Arbeiterrevolution in Deutschland gebraucht, um die völlige Gleichstellung der Frau durchzusetzen.
Nach 1949: Gleichberechtigung auf dem Papier
Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Bundesrepublik Deutschland wie selbstverständlich die repressiven Regelungen aus den Zeiten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. 1949 wurde das Grundgesetz verabschiedet. In Artikel 3 heißt es: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.«
Bedeutet hat dieses ›Grundrecht‹ praktisch nichts. Im Gegenteil: Als eine Große Strafrechtskommission 1959 die Einführung einer ›ethischen Indikation‹ vorschlug, also das Recht auf Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung, wurde sie von der Bundestags-Mehrheit aus CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Der §218 blieb unverändert bestehen. Das geltende Recht bedrohte jede Eigen- und Fremdabtreibung mit Freiheitsstrafe. Sogar der Selbstmordversuch einer Schwangeren galt zugleich als versuchte Abtreibung.
Das trieb Schwangere in die Hände von Menschen, die unter mehr als zweifelhaften Mitteln illegal abtrieben. Wie viele es waren, ist unklar. Minimalschätzungen in den 60er Jahren lagen bei 20 000 bis 30 000; auf eine Kleine Anfrage im Bundestag nannte die Bundesregierung eine Schätzung von 400 000 bis 500 000 Abtreibungen im Jahr.
Viele fanden unter elenden Bedingungen statt. In einem spektakulären Prozess stand in Frankfurt am Main 1971 ein Rundfunkmechaniker vor Gericht, der mit seiner Ehefrau und einem Kranführer illegale Abtreibungen vorgenommen hatte. Dabei trieb er den ungewollt Schwangeren mit improvisierten, langen Instrumenten eine Lauge aus Kernseife in den Uterus. Eine Frau starb in der Folge qualvoll an inneren Blutungen – eine von mindestens 50 Frauen, die schätzungsweise bei illegalen Abbrüchen jährlich das Leben verloren.
Neue Revolte, neue Frauenbewegung
Der §218 traf indes nicht alle Frauen gleich. Jene, die Geld und Beziehungen hatten, fanden immer eine Lösung: Entweder bei teuren Privatärzten, oder in einem der nicht-katholischen Nachbarstaaten, in denen Schwangerschaftsabbrüche im Laufe der 60er Jahre legalisiert wurden. Anders als für Frauen der herrschenden Klasse war der kurzentschlossene Weg zu einem Arzt im Ausland für berufstätige und arme Frauen damals mit ungleich größeren Schwierigkeiten verbunden.
Änderungen waren erst in Sicht, als die Bundesrepublik 1968 durch eine allgemeine Revolte erfasst wurde.
Hundertausende gingen auf die Straßen. Zunächst ging es um den Protest gegen den Vietnamkrieg, der die gesamte westliche Welt erfasst hatte. Dann ging es um die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit oder gegen die faschistische NPD. Schließlich kam es zwischen 1969 und 1973 zu großen Streikwellen, die sich auch gegen die diskriminierenden Niedriglöhne von Frauen in sogenannten ›Leichtlohngruppen‹ wandten. Dabei handelte es sich um Tarife, die Frauen für exakt dieselbe Arbeit geringer entlohnte als Männer.
In diesem Kontext entstand auch eine neue Frauenbewegung auf der Straße. Im Zentrum stand der Kampf gegen den Paragrafen 218.
Im Nachhinein wird diese Bewegung mit der von Willy Brandt geführten SPD-Regierung zusammengebracht. Tatsächlich hatte der SPD-Parteivorstand noch im Frühjahr 1971 einen von der eigenen Parteibasis vorgebrachten Antrag zur ersatzlosen Streichung des §218 mit der Begründung abgelehnt: »Das Leben – auch das werdende Leben – ist durch die Gesellschaft zu schützen.«
Am 6. Juni 1971 bekannten dann 374 Frauen im Magazin Stern mit Namen und Foto: »Ich habe abgetrieben!« Die Veröffentlichung löste eine Massenbewegung für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aus, wie es sie seit den 1920er Jahren nicht mehr gegeben hat.
In den folgenden zwei Jahren zogen immer mehr Frauen mit Flugblättern gegen das Abtreibungsverbot auf die Straßen und vor die Kirchen. Unter der Parole ›Mein Bauch gehört mir!‹ verlangten sie mit ihren Aktionen das Recht auf körperliche Selbstbestimmung.
Unter dem Druck dieser Bewegung veränderte sich die Einstellung in der Bevölkerung. Schließlich stimmte im April 1974 auch eine knappe Mehrheit der SPD/FDP-Regierung für eine ›Fristenlösung‹. Das heißt, der Paragraf blieb bestehen, aber ein Schwangerschaftsabbruch wurde legal – zumindest in den ersten drei Monaten nach Zeugung.
Klassenjustiz rettet Klassenparagrafen
Die Freude über diesen Teilsieg währte nur kurz. 193 Abgeordnete aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie fünf konservative Landesregierungen legten Klage beim Bundesverfassungsgericht gegen die Reform ein. Das entschied im Februar 1975, dass die Reform ›Würde des Menschen‹ verstoße. Die gelte auch für einen millimetergroßen Fötus zwei Wochen nach Zeugung.
Ersetzt wurde die Fristenregelung durch eine ›Indikationslösung‹. Sie bedeutete, dass Abbrüche auch in den ersten drei Monaten illegal blieben. Sie können in diesem Zeitraum aber bei einer sozialen, medizinischen oder ethischen Notlage (›Indikation‹) dennoch straffrei durchgeführt werden. Das ließ eine Hintertür offen. Sollte die ›soziale Indikation‹ eigentlich eine Ausnahme sein, so wurde ein Abbruch in der Praxis in 80 Prozent der Fälle mit ihr begründet.
Hier zeigte sich, dass die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen und die politische Bewegung nach 1968 die Massenmeinung verändert und das Selbstbewusstsein vieler ungewollt Schwangeren deutlich gestärkt hatten. Auch hatte die 68er-Revolte, die ihren Ausgang an den Universitäten nahm, genügend Ärztinnen und Ärzte mit einem Bewusstsein für die Nöte der ungewollt Schwangeren hervorgebracht.
Die Illegalität blieb weiterhin ein Unrecht gegen alle Frauen – und benachteiligte insbesondere jene, die aufgrund ihrer Unerfahrenheit, ihrer Armut oder ihres migrantischen Hintergrunds das komplizierte Beratungsverfahren in der knappen Frist nicht durchstehen konnten. Doch für andere war die Möglichkeit, Beratung und Abbruch unter einem Dach bei Trägern wie Pro Familia durchzuführen und dabei von fachkundigem Personal betreut zu werden, eine Art Schleichweg zur Umgehung des Verbots.
Memminger Schauprozess
Dagegen ging die CDU/CSU Ende der 80er Jahre erneut in die Offensive. Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht forderte 1988 auf dem Bundesparteitag der CDU: »Mit Strenge muss das Bewusstsein der Bevölkerung geändert werden.« An die Stelle des Begriffs Schwangerschaftsabbruch solle von »Tötung menschlichen Lebens« gesprochen werden. Andere führende CDU-Politiker wie Sozialminister Norbert Blüm schlugen in dieselbe Kerbe.
Im bayerischen Memmingen kam es in dem Jahr auf Betreiben der CSU-geführten Landesregierung zu einer Art Hexenprozess gegen einen Frauenarzt, dem vorgeworfen wurde, in über 150 Fällen illegale Abtreibungen vorgenommen zu haben. Gegen die betroffenen Frauen, deren Identität aus den Karteikästen des Arztes ermittelt worden ist, wurden Strafverfahren eingeleitet und teils hohe Geldstrafen verhängt.
Ziel der CDU/CSU war die Verschärfung des Paragrafen 218. Der Vorgang zeigt: Aushebelungen der Strafverfolgung über Umwege wie ›Indikationen‹ oder juristisches Ignorieren reichen nicht. Der §218 muss abgeschafft werden. Alles andere lädt die Konservativen und Rechtsextremen ein, kleinere Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag für weitere Angriffe gegen Frauenrechte zu nutzen.
Die Situation heute
Die aktuelle Situation ist Produkt eines weiteren schlechten Kompromisses. Der Angriff der CDU/CSU gegen die Rechte der Frauen Ende der 80er Jahre wurde nicht von der SPD oder den Grünen gestoppt, sondern von einer Revolution. 1989 gingen Millionen in der staatskapitalistischen DDR gegen das SED-Regime auf die Straße. Die Revolution mündete ein Jahr später in der Wiedervereinigung.
Für die Konservativen, die mit Kanzler Helmut Kohl den Gewinner der ersten gesamtdeutschen Wahl stellten, gab es ein Problem. In der DDR existierte seit 1972 die Fristenlösung, die den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten freistellt. Abtreibungen wurden kostenlos in Krankenhäusern durchgeführt.
Die verhältnismäßig liberale Position der Staatspartei SED war das Ergebnis des akuten Arbeitskräftemangels in der ostdeutschen Produktion. Die herrschende Bürokratie sah sich gezwungen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Erwerbstätigkeit fast aller Frauen ermöglichte. Dazu gehörte neben dem Recht auf Abtreibung auch die Schaffung von ausreichend Krippen- und Kindergartenplätzen.
Betroffene Frauen aus Ostdeutschland erzählen, dass die Behandlung in den Kliniken keineswegs immer so wohlmeinend war, wie manche DDR-Nostalgiker darstellen. Auch gab es keine Nachbetreuung.
Doch dessen ungeachtet war nach 1990 klar: Die ostdeutschen Frauen hatten keinesfalls vor, die westdeutsche Regelung widerstandslos zu akzeptieren und plötzlich als Kriminelle behandelt zu werden. Eine simple Übernahme des §218 aus dem Westen hätte dauerhaft soziale Unruhe provozieren können.
Ergebnis ist die seltsame Lösung, die wir heute haben: Der §218 gilt für Gesamtdeutschland, doch ein Verstoß gegen ihn führt nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung. Diese Halblösung ist für die westdeutschen Frauen besser als die Situation vor der Wiedervereinigung, aber für die ostdeutschen Frauen ein klarer Rückschritt. Sie führt weiterhin zu zahlreichen Problemen, wie wir in einem anderen Artikel dargestellt haben.
Die Fortexistenz des Paragrafen ermutigt im Übrigen rechte Kräfte, die Inkonsequenz bei der Strafverfolgung zu attackieren und für eine Verschärfung der Rechtsprechung zu mobilisieren. So haben wir seit nun rund 15 Jahren mit einer wachsenden Zahl von ›Märschen für das Leben‹ oder ›Tausend-Kreuze-Märschen‹ zu tun, die die AfD, rechte Konservative und erzreaktionäre Katholiken zusammenbringen. Für diese Kräfte geht es darum, mit dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch auch andere demokratische Freiheiten zu Fall zu bringen.
Die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 bleibt daher eine zentrale Forderung – für die Selbstbestimmung der Frau über ihren eigenen Körper, und im Kampf der Arbeiterklasse für ihre Rechte insgesamt.
Schlagwörter: §218, Frauen