Wie eine rechte Schmutzkampagne von Abtreibungsgegnern die Koalition vor sich hertreibt
Das gab es zuvor noch nicht: Die SPD stellt als Regierungspartei eine Kandidatin zum Bundesverfassungsgericht auf – und rund 50 Abgeordnete des konservativen Koalitionspartners blockieren die Wahl. Auslöser war eine Diffamierungskampagne von ganz rechts. Das zeigt: Merz‘ Flirt mit der AfD im Januar hat die Büchse der Pandora geöffnet. Immer mehr CDU/CSUler wollen eher mit Faschisten zusammenarbeiten, als eine sozialdemokratische Richterin durchzuwinken.
Von Claudia Cham und Lisa Weigel
Am 11. Juli 2025 sollte im Bundestag die Wahl für insgesamt drei vakante Stellen im Bundesverfassungsgericht stattfinden. Vorgeschlagen wurden zwei Kandidatinnen der SPD und ein Unions-Kandidat; für ihre Wahl ist eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Doch trotz vorheriger Absprache zwischen den Koalitionsparteien musste die Wahl abgeblasen werden. Rund 50 Unions-Abgeordnete kündigten an, die Wahl der Kandidierenden zu verweigern. Dies, obgleich Kanzler Merz als auch Fraktionsvorsitzender Jens Spahn dazu aufriefen, die Vorgeschlagenen zu wählen. Ein Fiasko – und gerade mal zwei Monate nach der Kanzlerwahl!
Die Eskalation um die Richterwahl
Zankapfel ist die von der SPD vorgeschlagene Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf. AfD, Abtreibungsgegnerinnen und BILD sehen in ihr »eine ultralinke Juristin«, die daher »ungeeignet und unwählbar« sei.
Hintergrund: Sie wurde 2023/24 von der damaligen Bundesregierung in die 18-köpfige Experten-Kommission verschiedenster Fachrichtungen einberufen, um die Möglichkeit einer Neuregelung des Abtreibungsparagrafen §218 zu prüfen.
Die Kommission kam einstimmig zu dem Ergebnis, dass »Abtreibungen in der Frühphase der Schwangerschaft nicht ins Strafgesetzbuch gehören, das ist weder mit dem Verfassungsrecht noch mit dem Völkerrecht, und auch nicht mit dem Europarecht vereinbar.«
In der Abtreibungsfrage vertritt die Juristin also eine progressive Position. In einer Handvoll anderer Fragen ebenso: Sie hat etwa die Auffassung, dass das Tragen von Kopftüchern durch Rechtsreferendarinnen islamischen Glaubens nicht dem staatlichen Neutralitätsgebot zuwiderlaufe.
Das macht sie zum Angriffsziel der rassistischen Rechten. Trotzdem ist sie weit davon entfernt, ›ultralinks‹ oder überhaupt ›links‹ zu sein und ordnet sich auch selbst der »moderaten Mitte« zu. In zahlreichen anderen Fragen spricht sie sich für eine wirtschaftsliberale Linie aus. Zum Beispiel befürwortet sie eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 70 Jahre.
Konservative und Rechte Hand in Hand
Der treibende Motor hinter der orchestrierten Kampagne gegen Brosius-Gersdorf waren rechte Kräfte wie die unionsnahe Lobbygruppe ›Christdemokraten für das Leben‹ (CDL), der Jugendverband des Vereins ›Aktion Lebensrecht für alle‹ (Alfa), die AfD und rechte Medien wie NIUS und BILD.
Das ZDF dokumentierte mittlerweile haarklein, dass es deren Kampagne war, die Anfang Juli in Windeseile eine Stimmung gegen eine Kandidatin erzeugte, die zuvor weithin unbekannt war. Dazu gehörten haltlose Plagiatsvorwürfen, die Etikettierung als ›ultralinks‹ – und die verleumderische Behauptung, sie würde auch Ungeborene nach neun Monaten noch töten lassen wollen.
Rechte Strategien und bürgerlicher Opportunismus
Im Zentrum steht das Recht auf straffreie Schwangerschaftsabbrüche. 80 Prozent der deutschen Bevölkerung sind für die Abschaffung des §218, der Frauen kriminalisiert, die sich für einen Abbruch entscheiden. Die Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP setzte die oben erwähnte Expertinnenkommission ein, die die Entkriminalisierung empfahl. Doch geschehen ist nichts.
Diese Passivität rächt sich nun. Die SPD als Juniorpartner einer zunehmend nach rechts driftenden CDU/CSU wird brüskiert und kann nicht einmal verhindern, dass ihre Kandidatin zum höchsten Gericht des bürgerlichen Staates von ultrarechten Abtreibungsgegnern und AfD-Faschisten in einer virtuellen Hetzjagd öffentlich an den Pranger gestellt wird.
Und es zeigt sich: Die ›Neutralität‹ der Justiz, der bürgerlichen Institutionen und einem demokratischen Rechtsstaat ist eine Illusion.
Die gescheiterte Wahl von Brosius-Gersdorf ist ein Beleg dafür, dass Demokratie im Kapitalismus immer unter Vorbehalt steht. Das ist Ausdruck der Krise des Systems. Heute erfordern selbst moderate Reformen einen harten Kampf.
Viele in der Union wollen eine andere Republik
Schwangerschaftsabbrüche sind immer noch nicht legal in Deutschland (hier kannst Du lesen warum). Die CDU/CSU hat klar gemacht, dass das auch so bleiben soll. Deswegen steht die Abschaffung des Paragrafen §218 auch nicht im Koalitionsvertrag mit der SPD, obgleich fast alle Wählerinnen und Wähler der SPD genau das wollen.
Die Hetzjagd gegen Brosius-Gersdorf hat gezeigt, dass das Kompromisslertum der SPD die Rechten nur zu weiteren Attacken ermutigt.
Brosius-Gersdorf wurde zur Projektionsfläche für frustrierte Unionsabgeordnete, die mit Merz auf ein Comeback zurück zum konservativen, frauen- und queerfeindlichen, rassistischen und unternehmerfreundlichen ›Markenkern‹ der CDU hofften – im Unterschied zum vermeintlich versöhnelnden Kurs unter Kanzlerin Merkel.
Nun ist Merz keine drei Monate im Amt und der parteiinterne Backlash gegen die beabsichtigte Lockerung der Schuldenbremse oder die Abstriche bei der versprochenen Stromsteuersenkung sind enorm. Deshalb versagen Teile der CDU/CSU-Basis Merz und Spahn nach so kurzer Zeit die Gefolgschaft. Die Wahl der Bundesverfassungsrichterinnen und -richter wurde zum Ventil einer rechten Opposition innerhalb von CDU/CSU.
Und die Krise schwelt weiter. Noch ist vollkommen unklar, wie im September überhaupt eine erfolgreiche Bundesverfassungsrichter-Wahl stattfinden soll.
CSU-Fraktionsvorsitzender Dobrindt hat der SPD die Aufstellung einer neuen Kandidatin nahelegt. Doch deren Vorsitzender Klingbeil hat klar gemacht, dass die SPD an Brosius-Gersdorf festhalten will. Es wäre die passende Gelegenheit, wenn die Gewerkschaftsapparate eingreifen und der SPD klarmachen würden, dass sie von ihr Rückgrat erwarten. Dann könnte aus dem Konflikt eine mobilisierende Wirkung für die Abschaffung des §218 und gegen die Rechte insgesamt hervorgehen.
Die Konservativen unter Druck setzen
Markus Söder meint, die schwarz-rote Koalition sei »die letzte Patrone der Demokratie«. Doch die rechtsextreme Patrone steckt schon längst im Fleisch des deutschen Staats: Die AfD ist inzwischen so stark, dass bürgerliche Mehrheitsverhältnisse, die für Entscheidungen des Parlaments notwendig sind, unmöglich geworden sind und sie kann mühelos ein rechtes Propaganda-Lauffeuer entfachen – wenn sie es denn möchte.
Konservative Kräfte können zeitweise unter Druck gesetzt werden, so dass sie auf Abstand zur AfD gehen. Dies hat die beeindruckende Massenbewegung im Januar gezeigt, als Merz sich an seinem Versuch, das rassistische „Zustrombegrenzungsgesetz“ gemeinsam mit der AfD durchzubringen die Finger verbrannte.
Bündnispartner im Kampf gegen die Faschisten sind sie deshalb noch lange nicht – das ist die Lehre aus dem Konflikt um Brosius-Gersdorf.
Eine andere Lehre ist, dass die SPD als Regierungspartei selbst den kleinsten Fortschritt in eine Sackgasse fährt. Als Juniorpartner der CDU/CSU wirkt sie selbst rechtsextrem-motivierten Verleumdungskampagnen gegenüber hilflos. Hoffnung auf echten Fortschritt (wie die längst überfällige Abschaffung des Paragrafen §218) liegt nicht in der Ernennung einer liberaleren Bundesverfassungsrichterin, sondern in einer Bewegung der Lohnabhängigen, die ihre Interessen auf der Straße erkämpft.
Schlagwörter: §218, Bundesregierung, CDU/CSU, Merz
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