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Der deutsche Kapitalismus in der Krise

Deutschland / Theorie & Geschichte / 22. Januar 2025

Die Marktwirtschaft spielt verrückt: Massiver Stellenabbau trotz „Fachkräftemangel“

Diese Woche treffen sich die Herrschenden der Welt in Davos zum „Weltwirtschaftsforum“. Mit dabei: 60 Staats- und Regierungschefs, sowie 1.600 „Wirtschaftsvertreter“. Darunter auch die Chefs deutscher Konzerne. Sie wollen den Eindruck vermitteln: Wir haben das System im Griff. Tatsächlich rutscht die Wirtschaft immer tiefer in die Stagnationskrise.

Von Karl Naujoks

Nun ist es amtlich: Die deutsche Wirtschaft ist nun das zweite Jahr in Folge leicht geschrumpft. 2023 ging das Bruttoinlandsprodukt um 0,3 % zurück. 2024 betrug der Wert -0,2 %. Folge: das erste Mal seit Jahren ist Arbeitslosigkeit wieder ein Thema.

Seit dem vergangenen Herbst vergeht kaum eine Woche ohne Schockmeldung über drohende Entlassungen oder Werkschließungen in der Großindustrie.

Vor allem der Konflikt bei VW stand im letzten Jahresviertel 2024 im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Im September hatte das Management vage gedroht, drei Werke zu schließen. Vor Weihnachten kam es nach Warnstreiks und zähen Verhandlungen mit der IG Metall zu einem Deal. Ergebnis: In den kommenden sechs Jahren sollen 35.000 Stellen abgebaut werden. Das ist nahezu ein Drittel der Belegschaft in Deutschland.

Krise in der Automobilbranche

VW ist kein Einzelfall. Aus der gesamten Automobilbranche kommen ähnliche Meldungen. Autozulieferer Schaeffler will insgesamt 4700 Stellen streichen, Continental über 7000. Bei Bosch sollen 5550 Stellen wegfallen. Der Getriebehersteller ZF baut 14.000 von 54.000 Stellen in Deutschland ab. Auch Ford kündigt den Wegfall von 2900 Stellen an, vor allem in Köln.

Die Auswirkungen auf den deutschen Kapitalismus sind enorm. 2019 waren über 950.000 Menschen in der gesamten Branche beschäftigt. Das Forschungsinstitut Prognos errechnete im Auftrag des Verbands der Automobilindustrie, dass diese Zahl bis 2035 auf etwa 770.000 Personen zurückgehen könnte.

Doch auch andere Branchen sind betroffen. So das Bahnunternehmen DB Cargo oder der Chemieriese BASF. Der Stahlkonzern ThyssenKrupp will in den kommenden sechs Jahren von 27.000 Stellen 11.000 in Deutschland streichen und den Standort Kreuztal schließen.

„De-Industrialisierung“

Der Stellenabbau in der Industrie hat zu den erwartbaren Panikmeldungen und Schuldzuweisungen geführt. Tenor: Zu viel Bürokratie, zu teure Energie und zu harte Konkurrenz aus China machen den Standort Deutschland kaputt. Am 16. Dezember, dem Tag des Misstrauensvotums gegen die Ampel, brachte Kommentator Thomas Berbner in den ARD-Tagesthemen die Wut der wirtschaftsliberalen Meinungsmacher auf den Punkt. Er warf Wirtschaftsminister Robert Habeck vor, „Klimaschutz mit der Abrissbirne“ betrieben zu haben. Die Regierung habe eine „Politik der Deindustrialisierung“ betrieben.

Kapitallogik

Solche Schreckensszenarien von der De-Industrialisierung Deutschlands sind Ausdruck einer tiefsitzenden Angst, die die Mittelschichten in jeder Krise erfasst. Sie haben darüber hinaus eine Funktion. Sie sollen die Bereitschaft in der Arbeiterklasse erhöhen, Verzicht zu üben.

So fordert der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Christian Sewing: „Wir werden in einer alternden Gesellschaft auch mehr und länger arbeiten müssen.“

Die FDP beklagte ganz in diesem Sinn in ihrem „Wirtschaftswende“-Papier, dass zum Ampel-Aus führte: In Deutschland sei die Zahl „an effektiven Arbeitsstunden je Beschäftigtem und Jahr zu niedrig“.

Der Widersinn tritt offen zutage: Trotz drohender Massenarbeitslosigkeit sollen die weiter in Beschäftigung stehenden Lohnabhängigen nach den Vorstellungen der Vertreter des Kapitals mehr arbeiten. Und natürlich für weniger Gehalt. Die Kapitalisten instrumentalisieren die Krise ihres Systems, um uns dafür bezahlen zu lassen.

Verrückt: ein „Fachkräftemangel“, das heißt ganz generell ein Mangel an Arbeitskräften, herrscht parallel tatsächlich fort. Er betrifft allerdings entweder Bereiche mit niedrigen Gehältern und schlechten Arbeitsbedingungen; oder jene, die von staatlichen Zuwendungen abhängig sind. Das heißt: Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen, Kitas, Logistikunternehmen und andere unternehmensnahe Dienstleister.

Der massive Beschäftigungsabbau in der Industrie und die fortbestehende, chronische Überarbeitung einer viel zu geringen Zahl an Angestellten in Dienstleistungen und Sozialbereich sind in Wirklichkeit nur zwei Seiten derselben kapitalistischen Medaille. In beiden Fällen geht es darum, die Lohnabhängigen so viel als möglich auszupressen, damit das deutsche Kapital einen größtmöglichen Teil vom gesamtwirtschaftlichen Reichtum aneignen kann.

Industrieller Zyklus

Ist die Krise real? Ja. Das zeigt die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahresdurchschnitt betrug es 2021 noch +3,7%. In den letzten beiden Jahren lag es jeweils bei -0,3 % und -0,2 %. Das heißt: die Wirtschaft schrumpft seit zwei Jahren.

Dies liegt nicht an der Klimapolitik. Ganz im Gegenteil beschweren sich Unternehmen wie Ford und andere, die viele Milliarden in die Elektromobilität investiert haben, dass die Bundesregierung die notwendige Transformation nicht entschieden genug vorangetrieben hätte.

Auch belasten die Energiepreise definitiv die Konkurrenzfähigkeit mancher Branchen, erhöhen aber die Profite bei Monopolisten wie RWE enorm. Hohe Energiepreise allein können die Krise nicht erklären.

Abwärtsspirale

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass nicht eine einzelne Regierung oder die Höhe der Löhne Schuld an der Rezession sind. Wirtschaftskrisen treten vielmehr in regelmäßigen Abständen auf, seit der industrielle Kapitalismus vor rund 200 Jahren entstanden ist.

Er durchlebt dabei sogenannte Überproduktionskrisen. Die Lohnabhängigen schuften immer mehr, die Profite sprudeln, bis irgendwann die Nachfrage stockt.

Dies ist in der Automobilbranche derzeit weltweit zu beobachten. „Uns fehlen Kunden für 500.000 Fahrzeuge“, erklärte Dirk Große-Loheide, Beschaffungsvorstand der Kernmarke VW im November.

Der Kapitalismus erstickt an seinem Reichtum: Immer mehr Autos lassen sich nicht verkaufen

Das Grundproblem: Nicht nur VW, sondern alle Autounternehmen leiden unter einem schrumpfenden Markt. In Europa werden heute im Vergleich zum Jahr 2020 rund zwei Millionen Fahrzeuge weniger verkauft. Das wird sich auf absehbare Zeit auch nicht ändern.

Sollte es dem VW-Konzern gelingen, durch Lohnverzicht bei den eigenen Beschäftigten und Intensivierung der Arbeit Kostenvorteile gegenüber den Konkurrenten zu erreichen, dann verlagert sich die Krise lediglich auf andere Unternehmen – die ihrerseits die jeweils eigenen Beschäftigten zu drücken versuchen. Wenn sich die Gewerkschaften auf dieses Spiel einlassen, führt dies unweigerlich zu einer Abwärtsspirale bei Löhnen und Arbeitsbedingungen.

Profitgier

Die Antwort auf diese demoralisierende Kapitallogik ist einfach, wenn wir das Problem vom Gesamtsystem aus betrachten. Das Geld ist da. Seit dem Jahr 2000 ist das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um 28 % gestiegen – inflationsbereinigt. Es ist die Arbeiterklasse, die diesen Reichtum erwirtschaftet hat. Ihre Zahl ist enorm gewachsen. Im Jahr 2004 gab es in Deutschland 39,4 Millionen Erwerbstätige, 2024 waren es schon 46,1 Millionen – ein Plus von 17 Prozent in zwanzig Jahren.

Mit anderen Worten: Der deutsche Kapitalismus ist so reich wie nie zuvor in der Geschichte. So wie die gesamte Weltwirtschaft. Doch nun, da das Globalsystem an seinem Reichtum erstickt, die Waren nicht mehr absetzen kann wie zuvor, sind den Unternehmen die Gewinnmargen nicht hoch genug. Die Arbeiter sollen zahlen, um die Kassen für internationale Übernahmen anderer Firmen zu füllen – oder die Dividenden der Aktionäre hochzuhalten.

Beispiel Mercedes-Benz: Das Management will Tausende Stellen streichen und bis 2027 fünf Milliarden Euro an jährlichen Kosten einsparen, darunter Personalkosten von 1,5 Milliarden.

Dabei ist das Unternehmen keineswegs in den roten Zahlen. Im dritten Quartal 2024 machte Mercedes-Benz immer noch einen Nettogewinn von 1,7 Milliarden Euro. Der Knackpunkt: die Marge ist dem Management nicht hoch genug. Sie betrug im dritten Quartal des Vorjahres noch 3,1 Milliarden Euro. Die Umsatzrendite in der dominanten Pkw-Sparte ging von 12,4 auf 4,7 Prozent zurück.

Mit anderen Worten: Die Kapitalisten bekommen den Hals nicht voll. Wenn der Mercedes-Vorstandsvorsitzende Ola Källenius im kommenden Februar die Jahresergebnisse für das Geschäftsjahr 2024 vorstellt, erwarten die Anteileigner eine Antwort darauf, wie das Unternehmen auch künftig weiter hohe Ausschüttungen an der Börse garantieren will.

Man muss sich klarmachen, dass innerhalb des Vorstandes ständig ein Machtkampf um die Top-Positionen stattfindet. Källenius ist dabei, das Führungsgremium umzubauen und zum Beispiel das China-Ressort und den Vertrieb mit seinen Vertrauten zu besetzen, die seine Unternehmensstrategie stützen. Diese Nachwuchsmanager müssen sich nun beweisen, und das geht nur über … Gewinnmaximierungen.

Neue Kultur des Klassenkampfs

Folge: der Ton wird rauer. Der Betriebsrat bei Bosch beklagte im Zusammenhang mit den neuesten Abbauplänen einen „Kulturbruch“ beim Management. Das Handelsblatt titelte: „Die netten Jahre in der Führung sind vorbei“.

Die größte Gefahr wäre es, wenn die Gewerkschaften auf diesen Kulturwechsel reagieren, in dem man den alten Zeiten nachtrauert und an die „Vernunft“ des Managements appelliert. Aus Sicht der Unternehmensführungen ist ein verändertes Verhalten lediglich die folgerichtige Reaktion auf die wachsenden Schwierigkeiten, mehr Profite als die konkurrierenden Unternehmen zu erwirtschaften.

Hinter dem vermeintlichen Kulturbruch steht das Aufeinanderprallen von Klasseninteressen. Sie werden niemals freiwillig etwas von ihren Profiten oder Managergehältern geben, um für das Allgemeinwohl irgendeinen Standort zu retten. Die einzige Sprache, die die neuen, robusten Manager verstehen ist: Klassenkampf.


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