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Waffenstillstand in Gaza: Bilanz nach 467 Tagen Krieg

Palästina & Israel / 20. Januar 2025

Am Abend des 15. Januar 2025 brachen viele Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza in Tränen der Freude aus: Nach 467 Tagen Dauerbombardement durch die israelischen Streitkräfte wurde endlich ein Waffenstillstandsabkommen verkündet. Vielen hoffen auf einen dauerhaften Frieden und den Wiederaufbau. Doch es gibt Kräfte, die etwas dagegen haben. Yahya Abu Nidal zieht Bilanz.

In Gaza versammelten sich nach der Verkündung des Waffenstillstandes noch am selben Abend tausende Menschen zu spontanen Freudenfeiern auf den Straßen. Auch in Tel Aviv zeigten sich die Familien sowie Unterstützerinnen und Unterstützer der israelischen Gefangenen erleichtert über den Deal.

Doch Premierminister Netanjahu war offenbar nicht zum Feiern zumute. Er zeigte sich erst gar nicht in der Öffentlichkeit. Dann ließ er die israelische Luftwaffe weiter bombardieren. Dabei kamen allein in 48 Stunden mehr palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben, als sich an israelischen Geiseln bei der Hamas befanden. Das zynische Kalkül dahinter: Der palästinensischen Bevölkerung die Freude über den Waffenstillstand zu nehmen, um ihn nicht als eine israelische Niederlage aussehen zu lassen.

Bilanz des Schreckens

Die Zahlen können nicht das Leid wiedergeben, das die palästinensische Bevölkerung durchgemacht hat. Doch sie zeigen die barbarische Einseitigkeit des Krieges.

Die israelische Armee hat seit dem 7. Oktober 2023 mindestens 46.707 Menschen getötet, darunter geschätzt 18.000 Kinder. Auf 50 Einwohner kommt ein Kriegstoter. Auf die Bevölkerung Deutschlands hochgerechnet entspräche dies rund 1,6 Millionen.

Dies verdeutlicht das apokalyptische Ausmaß des israelischen Bombardements. Geschätzt 85.000 Tonnen Sprengstoff hinterließen 42 Millionen Schutt: Ein Großteil des Gazastreifens ist zu einer Trümmerwüste geworden.

Über 110.000 Menschen wurden verletzt, 4500 Amputationen durchgeführt, nahezu die gesamte Bevölkerung ist einmal oder mehrfach innerhalb des Gazastreifens vertrieben worden.

Israel hat gezielt Journalisten und medizinisches Personal angegriffen. Patienten wurden aus Krankenhäusern vertrieben, mindestens 231 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vereinten Nationen umgebracht und Gebäude der UN bombardiert.

Völkermord

Der Krieg war dermaßen einseitig und so offensichtlich gegen die palästinensische Zivilbevölkerung gerichtet, dass Amnesty International in einem langen Bericht zum Schluss kam: Es handelt sich um ein planmäßiges Vorgehen, einen Völkermord.

Der internationale Gerichthof in Den Haag verhängte einen Haftbefehl wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gegen Premierminister Netanjahu und den früheren Verteidigungsminister Gallant.

Letzterer leitete den Krieg mit den Worten ein, bei den Palästinensern handele es sich um „menschliche Tiere“, die entsprechend behandelt würden. Dies hinderte die Bundesregierung nicht, Israel bei seinem genozidalen Vorgehen politisch und militärisch massiv zu unterstützen. Die deutschen Rüstungsexporte nach Israel hatten sich nach dem 7. Oktober 2023 verzehnfacht. Deutschland sah sich daher vor dem Internationalen Gerichtshof angeklagt – wegen „Beihilfe zum Völkermord“.

Was beinhaltet das Abkommen?

Das Waffenstillstandsabkommen ist am 19. Januar 2025 in Kraft treten. In der ersten Phase des Waffenstillstands sollen ab Sonntag 33 israelische Gefangene gegen 1000-2000 palästinensische Gefangene freikommen.

Darüber hinaus gibt es Pläne für einen Rückzug der israelischen Armee bis auf eine mögliche Pufferzone 700 Meter nach Gaza hinein, eine Koordinierung von Hilfslieferungen und eine Rückkehr der Vertriebenen im Süden Gazas zurück in den Norden unter Überwachung durch Ägypten und Qatar. Über diese zweite Phase soll nach den ersten 16 Tagen des Waffenstillstands weiterverhandelt werden.

Dies lässt Böses befürchten: Es ist denkbar, dass der Krieg nach der Befreiung eines Teils oder aller Geiseln mit voller Härte fortgeführt wird.

Geiseln, Gefangene und „Terroristen“

Es ist gut, dass endlich die Waffen schweigen. Doch selbst jetzt noch ist die Wortwahl diskriminierend. In den deutschen Medien werden gefangene Israelis zu Recht als „Geiseln“ bezeichnet. Doch verschleppte Palästinenserinnen und Palästinenser erscheinen unterschiedslos als „palästinensische Häftlinge“. Häufig werden die Gefangenen als „palästinensische Terroristen“ qualifiziert.

Die deutschen Medien übernehmen in der Berichterstattung weitgehend die israelischen Sprachregelungen. In Israel werden fast alle Menschen als “palästinensische Terroristen“ bezeichnet, die während des Gazakriegs festgenommen und verschleppt worden sind. Es gehört zur israelischen Herrschaft, dass regelmäßig Personen ohne Prozess und Anklage in sogenannter Administrativhaft festgehalten werden – auch in Jahren, in denen kein Krieg herrscht.

Insgesamt inhaftierte Israel seit 1967 über eine Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser, darunter etwa 17.000 Frauen und 50.000 Kinder und Jugendliche. Derzeit sitzen über 9.000 palästinensische Personen hinter israelischen Gittern. In den letzten Jahren wurden jährlich bis zu 700 Kinder verhaftet.

Israelische Rechte will Fortsetzung des Krieges

In Israel gibt es starke Kräfte, die nicht wollen, dass aus dem Waffenstillstand ein dauerhafter Frieden wird. Unmittelbar nach Vereinbarung des Deals brach die Regierungskoalition auseinander. Die rechtsextreme Partei “Jüdische Stärke” (Otzma Jehudit) unter Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit, verließ die Regierungskoalition. Er rief Bezalel Smotrichs Siedlerpartei “Nationalreligiöse Partei – Religiöser Zionismus” (Mafdal – HaTzionut HaDatit) dazu auf mit ihm zu gehen.

Auch auf der Straße und in Armeekreisen stößt das Abkommen auf Widerstand der israelischen Rechten: Man wolle keine “Terroristen” freilassen und am Kriegsziel, die Hamas vollends zu zerstören, müsse festgehalten werden.

Druck von zwei Seiten

Netanjahu steht offensichtlich und Druck von zwei Seiten. Joe Biden wollte aus seinem Amt als US-Präsident scheiden und noch für sich reklamieren können, einen Waffenstillstand ausgehandelt zu haben. Donald Trump wollte sein Amt antreten und von sich sagen können, sein politisches Gewicht habe den Deal endlich ermöglicht.

Innenpolitisch sind die Drohungen Itamar Ben-Gvirs die Regierung zu verlassen und seine Versuche, Smotrich mitzuziehen, eine ernsthafte Gefahr für Netanjahus Machterhalt in Israel. Auf die “Jüdische Stärke” kann er verzichten, sollte er aber auch die Siedlerpartei Smotrichs verlieren, hätte das unter Umständen Neuwahlen zur Folge.

Dementsprechend wird Netanjahu insbesondere mit Anbruch der zweiten Verhandlungsphase unter enormem Druck stehen, den Massenmord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza fortzusetzen.

Die USA – ein Dealmaker in Sachen Frieden?

Dass sich sowohl der scheidende US-Präsident Joe Biden als auch sein Nachfolger Donald Trump dafür feiern lassen, den Waffenstillstand erst möglich gemacht zu haben, ist angesichts der Rolle der USA im Nahen Osten ein grausamer Witz.

Trump wie auch Biden sind überzeugte Unterstützer israelischer Kolonialpolitik und haben in ihren jeweiligen Amtszeiten alles getan um Israel in die Position zu bringen aus der heraus es nun seit fast anderthalb Jahren seinen Völkermord verübt. Während Trump mit den sogenannten Abraham-Abkommen die Normalisierung zwischen Israel und den Diktaturen rundherum vorantrieb, billigte Biden zwei Wochen vor seinem Abschied aus dem Amt den Verkauf von Rüstungsgütern an Israel in Höhe von umgerechnet 7,4 Milliarden Euro.

Und Deutschland?

Ähnlich widersprüchlich verhält sich die scheidende rot-grüne Minderheitsregierung. Seit dem 7. Oktober 2023 stehen das grüne Auswärtige Amt unter Annalena Baerbock und das sozialdemokratische Kanzleramt unter Olaf Scholz unbeirrbar an der Seite der israelischen Regierung, bewaffnen das Land in seinem Vernichtungsfeldzug und verteidigen es auf nationaler wie internationaler Bühne gegen jede Kritik.

Allein seit August 2024 genehmigte die Bundesregierung Rüstungslieferungen im Wert von über 117 Millionen Euro. Deutschland deckte zwischen 2019 bis 2023 etwa 30 Prozent der gesamten israelischen Rüstungsimporte (mehrheitlich Kriegsschiffe sowie teils Torpedos und Motoren für auch in Gaza eingesetzte Fahrzeuge) und ist damit zweitgrößter Rüstungsimporteur Israels nach den USA.

Nach Verkündung des Waffenstillstands beschwor Annalena Baerbock heuchlerisch, sie werde den “Glauben an die Diplomatie niemals aufgeben”. Deutschland stehe „weiter an der Seite aller, die sich für Frieden und Sicherheit in der Region einsetzen”.

Es geht um Land

Israels Verbündete im Westen sind immer nur insoweit an einer Beruhigung des Blutvergießens in Palästina interessiert, wie es ihnen den politischen Druck im eigenen Land reduziert. Kommt es aber darauf an, übergehen sie die eigene Bevölkerung, egal wie viel Prozent ein Ende der Waffenlieferungen möchten, solange die ihren Unmut nicht als Bewegung auf der Straße äußern.

Auch das jetzige Abkommen wird dem Druck aus der israelischen Gesellschaft heraus ausgesetzt sein. Die israelische Rechte will die Fortsetzung des Krieges. Denn es geht nicht um die Hamas oder die Geiseln. Der Gazakrieg reiht sich in eine lange Kette von Kriegen ein, die die fortgesetzte Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung vom eigenen Land zum Ziel hat.

Dies zeigt sich an einem Detail, das in der deutschen Berichterstattung fast völlig untergeht: Die Netanjahu-Regierung hat zehntausende Waffen an radikale Siedler im Westjordanland verteilt. Diese haben, zusammen mit der israelischen Armee, dort weit über 800 Menschen ermordet und einige palästinensische Siedlungen „ethnisch gesäubert“. Und das, ohne die Hamas als militärische Bedrohung heranziehen zu können.

Ein weiteres Detail: Kaum ist in Syrien das Assad-Regime gefallen, nutzt Israel die Situation, um das Land aus der Luft zu bombardieren und mit Panzern tiefer in syrisches Territorium einzudringen. Die annektierten Golanhöhen werden um die bisherige „Pufferzone“ erweitert.

Solidarität weiter notwendig

Solidarität mit Palästina ist auch nach dem Waffenstillstand weiter wichtig. Konkret geht es um einen dauerhaften Waffenstillstand und um die Einstellung aller Rüstungsexporte an Israel. Langfristig kann es nur Frieden geben, wenn die nationale Unterdrückung Palästinas beendet wird und die palästinensische Bevölkerung endlich das Recht auf einen eigenen Staat bekommt.


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