Aus Syrien erreichen uns beunruhigende Nachrichten. Drei Monate nach dem Sturz der Assad-Diktatur sind im Nordwesten des Landes bei bewaffneten Auseinandersetzungen fast 1000 Zivilistinnen und Zivilisten ermordet worden. Es verdichten sich die Berichte über Gräueltaten gegen Alawiten. Was steckt dahinter?
Von Jan-Christoph Pfeiffer
Um die aktuellen Entwicklungen in Syrien zu verstehen, müssen wir den Kontext beleuchten. Im Dezember stürzte das Regime Baschar al-Assads in Folge einer Großoffensive verschiedener islamistischer Milizen der syrischen Opposition. In wenigen Tagen stürzte die Diktatur der Familie al-Assad, die seit den 70er Jahren das Land mit brutaler Gewalt beherrschte.
Die Geschäfte der Zentralregierung in Damaskus wurde nach der Flucht al-Assads und seiner Familie von der Miliz Haiʾat Tahrir asch-Scham („Komitee zur Befreiung der Levante”) übernommen. Viele ehemalige Regimeanhänger flohen entweder außer Landes oder in den Nordwesten Syriens.
Alawiten: Teil der Revolution
Die Region um die Hafenstadt Latakia ist Heimat der alawitischen Minderheit, der auch der ehemalige Machthaber al-Assad sowie sein Vater angehörte. Die Familie al-Assad versuchte seit Übernahme der Macht in Syrien Ende der 70er Jahre, die Minderheit an das Regime zu binden. Sie rekrutierte Führungspersonen in Militär und Politik aus ihr nahestehenden Alawiten, verlagerte wichtige Wirtschaftsprojekte in Teile der Region und nutzte alawitische Wohngegenden als Ausgangspunkt für Militäraktionen seit Beginn der syrischen Revolution.
Diesen Bemühungen zum Trotz regte sich auch in mehrheitlich alawitischen Gegenden im Zuge der Revolution Widerstand gegen das Regime Baschar al-Assads. Alawitinnen und Alawiten waren ebenso wie alle anderen Minderheiten Syriens Teil der syrischen Opposition gegen das alte Regime.
Re-Run eines alten, brutalen Programms
Nachdem am Mittwoch vergangener Woche angeblich bis zu 4000 Loyalisten des abgesetzten Regime Baschar al-Assads überall im Nordwesten Syriens Checkpoints der Übergangsregierung angriffen und dabei syrischen Menschenrechtsorganisationen zufolge 172 Soldaten und über 200 Zivilisten töteten, baten die angegriffenen Milizen der Übergangsregierung um Verstärkung in der Region.
Diesem Ruf folgten Bewaffnete aus allen Teilen des Landes. Daraus wurde eine Racheaktion, die sich über das ganze Wochenende erstreckte und der etwa 400 Menschen darunter bewaffnete Assad-Loyalisten wie Zivilisten zum Opfer fielen.
Es ist ein Muster, das aus der Revolution in den Jahren 2011 bis 2013 und dem folgenden Bürgerkrieg bereits erprobt worden ist. Damals hat das Regime Assads aus alawitischen Stadteilen heraus ihre Gegner beschossen, um Hass auf alle Alawiten zu schüren und konfessionalistische Gegenreaktionen zu provozieren.
Das heißt: Bluttaten gegen die Alawiten als solche, was diese wiederum an das Assad-Regime als vermeintlichen Beschützer schweißen sollte.
Neue Revolution
Dass dieses Monster der rassistischen Gewalt sich nun erneut gegen eine religiöse Minderheit richtete, zeigt die Grenzen des politischen Umbruchprozesses. 2011, zur Hochzeit der Revolution war der Schlachtruf von Millionen: „Das syrische Volk ist einig!“ Gemeint war, dass man sich nicht auf Grundlage der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit ausspielen lassen würde. Der Sieg al-Assads im Bürgerkrieg und das Erstarken dschihadistischer Milizen hat dieses Gefühl untergraben.
Der rasche Sturz der Assad-Diktatur hat vor drei Monaten Euphorie entfacht. Aber da der Prozess im Kern militärisch getrieben war, sind die alten Geister des Konfessionalismus jederzeit reaktivierbar. Was es braucht, ist einen tiefgreifenden revolutionärer Prozess, der aus der Euphorie einen bewussten Prozess der Umgestaltung der sozialen Beziehungen von unten macht.
Reaktion der Regierung
Übergangspräsident Ahmad al-Schar’a verspricht Aufklärung der Massaker und eine Bestrafung derer, die am Töten unschuldiger Zivilisten beteiligt waren.
Druck auf die neue Regierung dem Töten entlang konfessionalistischer Linien ein Ende zu setzen formierte sich bereits am Wochenende. So kam es zu mehreren spontanen Demonstrationen, unter anderem in der Hauptstadt Damaskus. Am Ende dieses Artikels dokumentieren wir die Stellungnahme der Revolutionären Linken in Syrien vom 7. März, die ebenfalls an den Mobilisierungen gegen die Massaker teilgenommen haben.
Kurdistan
Während die Situation im Nordwesten Syriens weiter angespannt bleibt, hat sich im Osten des Landes eine völlig neue Situation ergeben. Am 10. März unterschrieben Übergangspräsident al-Schar’a und Mazlum Abdî, Oberkommandeur der kurdisch-dominierten sogenannten “Demokratischen Kräfte Syriens” (SDF), ein Abkommen mit weitreichenden Konsequenzen.
Das Abkommen beinhaltet ersten Medienberichten folgendes:
- Die sogenannten “Syrischen Demokratischen Kräfte” integrieren sich in die nationale syrische Armee unter der Übergangsregierung.
- Die kurdische Minderheit wird offiziell als integraler Bestandteil des Syriens anerkannt.
- Kurden erhalten ausnahmslos die syrische Staatsangehörigkeit und vollumfängliche Staatsbürgerrechte.
Noch unklar ist, ob die verfassungsmäßige Anerkennung der Kurden mit einer gewissen territorialen Autonomie kommt oder nicht.
Klar ist, dass die Zentralregierung des neuen Regimes in Damaskus mit diesem Abkommen drei Monate nach dem Sturz des Diktators al-Assad zum ersten Mal Aussicht auf Souveränität über den Norden und Nordosten Syriens hat. Immerhin etwa ein Drittel des Landes und einer der ressourcenreichsten Landesteile.
Der Ressourcenreichtum der Region ist ein entscheidender Punkt, denn geplant sind neben der Integration der militärischen Teile der SDF auch alle zivilen Institutionen in die Administration unter Übergangspräsident Ahmad al-Schar’a zu überführen. Insbesondere würde dieser Schritt Flughäfen und Grenzübergänge, aber auch Öl- und Gasfelder sowie Förderungsanlagen betreffen.
Für die Implementierung des Abkommens setzen die Exekutivräte der Verwaltung der SDK die zeitliche Zielmarke von etwa neun Monaten, also bis Ende dieses Jahres.
Das Abkommen ist für die Übergangsregierung von immenser Bedeutung für ihre Bemühungen, ihre Macht in ganz Syrien zu konsolidieren und sich wirtschaftlich Luft zum Atmen zu verschaffen.
Durchbruch für kurdische Minderheit
Aber es ist auch für die kurdische Minderheit in Syrien bedeutsam: nach einem halben Jahrhundert Diktatur zeichnet sich für syrische Kurdinnen und Kurden zum ersten Mal die Aussicht auf die offizielle Anerkennung als Teil des syrischen Volkes und volle Staatsbürgerschaft ab. Unter den Assads war beides großen Teilen der kurdischen Bevölkerung verwehrt geblieben. Die kurdische Sprache war phasenweise verboten und Kurdinnen und Kurden wurden syrische Pässe verweigert. Die rechtliche Gleichstellung war eine der zentralen Forderungen kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten während der syrischen Revolution 2011. Mit dem neuen Abkommen scheint sie zum Greifen nah.
Bereits seit der Machtübernahme durch HTS hat die Übergangsregierung mit den SDF verhandelt. Dass es jetzt zu einem solch weitreichenden Abkommen kam, liegt mit Sicherheit auch an der veränderten Strategie in Teilen der kurdischen Freiheitsbewegung. Ende Februar 2025 rief PKK-Gründer Öcalan zur Auflösung der Partei auf und damit zu einem Ende des bewaffneten Widerstands. Die Integration des bewaffneten Widerstands der Kurdinnen und Kurden Syriens in den syrischen Staat unter HTS im Tausch für rechtliche Gleichstellung und Anerkennung des kurdischen Volkes als Teil Syriens ist eine Bestätigung der politischen Linie Öcalans durch die Demokratischen Kräfte Syriens.
Die Entwicklung zeigt: der revolutionäre Prozess, der 2011 begonnen hat und zeitverzögert schließlich den Sturz des Assad-Regimes eingeleitet hat, bietet auch die Grundlage für eine Überwindung der Unterdrückung nationaler und religiöser Minderheiten.
Wichtig ist, dass in diesem Moment die Entwicklung nicht stehen bleibt. Wenn HTS und SDF eine gemeinsame Armee bilden, dann ist es besser, als wenn der Bürgerkrieg fortgeführt wird. Aber nur eine neue Revolution garantiert, dass aus der neuen Armee nicht erneut ein neues Unterdrückungsinstrument wird, das über die Gesellschaft herrscht.
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Aufruf an das syrische Volk:
Stoppen wir das Monster der konfessionellen Massaker, bevor es zu spät ist
Syrien erlebt schicksalsträchtige Momente, die gefährlichsten seit dem Sturz des vorherigen tyrannischen Regimes. Das Monster der konfessionell motivierten Massaker erhebt erneut sein Haupt, insbesondere an der syrischen Küste. Es droht, das soziale Gefüge zu zerreißen und das Land in ein Meer aus Blut und Verwüstung zu stürzen. Wenn dieses blutige Monster nicht gestoppt wird, werden Tod und Zerstörung das heimsuchen, was von Syrien noch übrig ist.
Historische Verantwortung:
Das gestürzte Regime der Assad-Familie trägt die Hauptverantwortung für den Albtraum, in dem das Land steckt. Allerdings tragen auch die neuen Autoritäten erhebliche Verantwortung für das unkontrollierte Vorgehen ihrer bewaffneten konfessionalistischen Milizen, die Verfolgung religiöser Minderheiten und die Unterdrückung der Zivilbevölkerung, insbesondere an der syrischen Küste. Nicht jeder, der einen anderen Glauben oder eine andere ethnische Zugehörigkeit hat, ist gleich ein „Überbleibsel des alten Regimes“. Tatsächlich wurden nur sehr wenige führende Politiker des ehemaligen [Assad-]Regimes verhaftet. Die Ermordung unschuldiger Zivilisten wird nun hingegen damit gerechtfertigt, dass man sie als Reste des Assad-Regimes bezeichne – ein unverzeihliches Verbrechen.
Eskalation der Gewalt:
Das Land ist Zeuge einer gefährlichen Eskalation von Menschenrechtsverletzungen. Darunter die Bombardierung von Zivilisten, die Verhaftung Unschuldiger und sogar die Verhinderung der Beerdigung von Ermordeten. Unter fadenscheinigen Vorwänden dringen Panzer und schwere Artillerie in Wohngebiete ein, während konfessionalistische Medien zu diesen Verbrechen aufrufen und sie manchmal auch rechtfertigen.
Konfessioneller Konflikt: Ein unverzeihliches Verbrechen
Konfessionelle Konflikte sind nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch ein sicherer Weg zur Spaltung des Landes und seiner Bevölkerung. Dieser blutige, rassistische Wahnsinn muss gestoppt werden, bevor es zu spät ist. Das Töten von Zivilisten ist, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit, ein unverzeihliches Verbrechen und angesichts dessen zu schweigen, ist Mittäterschaft.
Unsere dringendsten Forderungen:
Wir rufen alle Syrerinnen und Syrer auf, ihrer historischen Verantwortung gerecht zu werden und unverzüglich politische Maßnahmen zu ergreifen, um diesem konfessionellen Wahnsinn ein Ende zu setzen und das Land vor dem Abgleiten in einen verheerenden Bürgerkrieg zu bewahren.
Wir fordern, dass die neuen Autoritäten ihrer Verantwortung in vollem Umfang nachkommen, indem sie:
-Die unkontrollierten Aktionen konfessioneller bewaffneter Gruppen stoppen.
–Den Schutz von Zivilisten und Minderheiten vor Verfolgung und Unterdrückung garantieren.
–Abrücken von einer Politik der Anschuldigungen, die Exekutionen von Personen wegen „Hochverrat“ oder als “Überbleibsel des Regimes” zu rechtfertigen.
Die Medien haben die Verantwortung dafür, der konfessionellen Aufwiegelung ein Ende zu setzen und Hassreden, die Gewalt schüren, zu unterbinden.
Wir bekräftigen, dass die einzige Möglichkeit, Syrien zu retten, die Eröffnung eines umfassenden nationalen Dialogs ist, der die Würde und die Rechte aller Syrer anerkennt und frei von konfessioneller Polarisierung und Gewalt ist.
Unsere abschließende Botschaft:
Bevor es zu spät ist, müssen alle politisch bewussten Menschen in Syrien sofort handeln, um diese drohende Katastrophe zu verhindern. Wir werden nicht zulassen, dass sich die Tragödien der Vergangenheit wiederholen, und wir werden nicht erneut in ein Meer aus Blut eintauchen. Die Einheit des syrischen Volkes und seine Würde sind rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen.
Das Töten eines jeden Zivilisten ist ein unverzeihliches Verbrechen.
Konfessionelle Gewalt ist ein unverzeihliches Verbrechen.
Die Strömung der Revolutionären Linken in Syrien
7. März 2025
Schlagwörter: Kurdistan, Syrien