Regierungen stürzen im Rekordtempo – Faschisten warten auf ihre Chance – Massenwiderstand von unten kann Gleichgewicht nach links verschieben
Am 6. Oktober trat Premierminister Lecornu nach nur 27 Tagen Amtszeit zurück… doch Tage später beauftragt ihn Präsident Macron erneut mit der Regierungsbildung. Reuven Neumann erklärt, was hinter dem politischen Chaos in Frankreich steckt – und warum dies nur die Vorboten dessen sind, was wir zu erwarten haben.

Lecornu: ratlos angesichts der Spaltungen unter den Herrschenden (Photo: Wikipedia Commons)
Es scheint wie ein politischer Treppenwitz: Lecornu war der dritte Premierminister, der seit den vorgezogenen Parlamentswahlen im Sommer 2024 gestürzt ist. Am 5. Oktober stellte er seine Ministerinnen und Minister vor, am 6. Oktober trat er zurück. Tage später beauftragte ihn Präsident Macron mit der Bildung einer weiteren Regierung.
Der Grund für diese chronische Instabilität ist die Unfähigkeit der Herrschenden, einen Haushalt durchzubringen, der die Staatsfinanzen auf Kosten der arbeitenden Klasse saniert. Landesweite Proteste und Streiks lassen es riskant erscheinen, die Regierungen des zunehmend unpopulären Staatspräsidenten Macron zu stützen.
Zu Beginn dieses Jahres haben sowohl die sozialdemokratische Parti Socialiste, als auch die Faschisten des Rassemblement National (RN) noch für den rechtsliberalen Premierminister François Bayrou gestimmt, als er die Vertrauensfrage stellte. Dies war notwendig, da er den Staatshaushalt 2025 per Erlass unter Berufung auf Artikel 49.3 der Verfassung durchdrückte.
Über eine weitere Vertrauensfrage im September stürzte Bayrou dann, nachdem er für 2026 einen Staatshaushalt erließ, der Einsparungen im Staatsbudget in Höhe von 44 Milliarden Euro vorsah. Lecornu steht nun vor dem gleichen Problem: ihm gelingt es einfach nicht, die notwendige Mehrheit zusammenzubekommen. Die Sparhaushalte sind in der Bevölkerung so verhasst wie die Regierungen, die sie aufstellen.
Massenwiderstand von unten
Die Unpopularität der Sparpolitik drückt sich seit langem in Aktionen der arbeitenden Klasse Frankreichs aus. Im September beteiligten sich landesweit an zwei Tagen über eine Million Menschen an Streiks, Blockaden und Demonstrationen. Am 2. Oktober folgte ein weiterer Aktionstag. Die Gewerkschaften riefen zu einem Generalstreik und Protesten auf der Straße auf.
Mit ersten Erfolgen: Die vorgesehene Streichung von zwei Feiertagen sowie die Verdoppelung der Arztgebühren wurden vom Tisch genommen.
Ein weiteres Zeichen: am 7. Oktober, mitten in der aktuellen Regierungskrise, schlägt die frühere Premierministerin Elisabeth Borne vor, die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre aussetzen. Der Gag daran: es war niemand anders als Borne selbst, die diese Anhebung 2023 über den Artikel 49.3 verfügte.
Die Architektin des Problems schlägt den Rückbau ihres eigenen Konstrukts vor! Sie hofft, dass auf diese Weise die PS sich bereit zeigen könnte, die Regierung Lecornu II zu unterstützen.
Konservative schielen nach rechts
Dies zeigt: Der soziale Druck der Straße und aus den Betrieben wirkt. Allerdings weiß niemand, ob Lecornu auf den Ratschlag seiner Vorgängerin hören wird und sich auf die PS zubewegt. Seine Versuche, die PS mit Zugeständnissen in der Rentenfrage aus dem Linksbündnis der NFP (Nouveau Front Populaire) herauszubrechen, blieben bislang zu zaghaft und daher erfolglos.
Eine gefährliche Alternative zeichnet sich drohend ab: die Öffnung der Konservativen für eine Zusammenarbeit mit dem faschistischen RN. So war Lecornu im November 2024 und im April 2025 an geheimen Abendessen von konservativen Politikern und der Führung des RN beteiligt. An diesen Treffen nahmen auf der Seite der RN sowohl Marine Le Pen als auch der aktuelle Parteivorsitzende Jordan Bardella teil.
Angesichts des Chaos und der Ausweglosigkeit könnte bei den Konservativen die illusionäre Hoffnung keimen, dass die Faschisten des RN durch eine Regierungsbeteiligung womöglich „entzaubert“ würden. Das rigorose Vorgehen, dass die Faschisten gegen die sozialen Massenbewegungen und die Gewerkschaften versprechen, kann ihnen als attraktiver Ausweg aus der bestehenden Sackgasse erscheinen – trotz der Ungewissheit, in die sie Frankreich damit stürzen würden.
Wie die Verschuldungskrise lösen
Der Hintergrund für die aktuelle politische und finanzielle Krise in Frankreich bildet die hohe Verschuldung des Landes. Die zweitgrößte Wirtschaft der EU hat aktuell Staatsschulden von 3,3 Billionen Euro. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung verfügt das Land damit nach Griechenland und Italien mit 114 % die drittgrößte Schuldenquote.
Im letzten Jahr wurde das erste Mal die Kreditwürdigkeit des Landes von wichtigen Ratingagenturen herabgestuft. Das macht die Kreditaufnahme teurer. Nicht wenige befürchten eine Wiederholung der griechischen Staatsschuldenkrise von 2015 in einem noch größeren Ausmaß.
Hinzu kommt, dass auch Frankreichs herrschende Klasse nicht bereit ist, an der Rüstung zu sparen. Lecornu selbst war unter Macron bereits Verteidigungsminister und befürwortet die massive militärische Aufrüstung Frankreichs. So soll der Verteidigungshaushalt seinen Vorstellungen nach bis 2030 jährlich um drei Milliarden Euro und die Truppenstärke bis 2030 von aktuell 200.000 auf 275.000 Soldaten anwachsen.
Die Absicht der gescheiterten Regierungen Macrons unter Bayrou und Lecornu war es, die arbeitenden Klasse zahlen zu lassen, um das jährliche Haushaltsdefizit bis 2027 wieder auf unter 3 % des Bruttoinlandsprodukts zu drücken.
Dazu sollten zwei Feiertage für die Arbeitnehmer gestrichen werden, die Renten auf das bestehende Niveau eingefroren, und das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Weiterhin sollten weitere fünf Milliarden im Gesundheitssystem eingespart werden – während für den Militärhaushalt ein Aufwuchs von 6,2 Milliarden Euro vorgehen war (und ist).
Hinzu kam, dass die Regierung im September über ein Gesetz beraten ließ, dass den 1. Mai zu einem normalen Arbeitstag machen sollte. Mehr Provokation gegen die Gewerkschaften und die Linke ging nicht.
Der Widerstand wächst
Angesichts der geplanten Sparpolitik zeigt sich aber auch die zunehmende Unzufriedenheit mit der Regierung und die steigende Bereitschaft, Widerstand zu leisten. Laut einer aktuellen Umfrage fordern 56 % der Befragten den Wunsch nach Neuwahlen. 64 % wünschen den Rücktritt des Staatspräsidenten Macron.
Bereits am 10. September waren nach einem Aufruf durch die linke Bewegung „Bloquons tout“ (Wir blockieren alles!) in einem landesweiten Protest Hunderttausende auf der Straße. Busdepots, Schulen und Straßen wurden im ganzen Land besetzt. Die französische Gewerkschaft CGT meldete bis zu 700 Streiks allein an diesem Tag.
80.000 Polizisten wurden für diesen Tag mit der Rechtfertigung mobilisiert, dass von den Demonstrationen Gewalt ausgehen würde. Dies verdeutlicht die Angst der Regierenden. Bayrou, Lecornu und all die anderen Konservativen lassen die Menschen auf den Straßen von der Polizei attackieren, um sie einzuschüchtern.
Die Proteste und Blockaden beschränkten sich dabei nicht mehr allein auf die soziale Frage, sondern griffen auch politische Themen auf, wie Palästina und Antirassismus. So wurde beispielsweise die französische Sicherheitsfirma Eurolinks blockiert. Diesem Unternehmen werfen Menschenrechtsgruppen vor, Komponenten für Maschinengewehre an Israel zu liefern und daher mitverantwortlich für den Genozid in Gaza zu sein.
Der am 18. September von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik hat schließlich mehr als eine Million Lohnabhängige in den Ausstand gebracht und erneut große Teile des Landes lahmgelegt. Das Szenario wiederholte sich am 2. Oktober.
Diese Streiks und Demonstrationen haben nicht nur das Potenzial, die Kürzungen zu verhindern. Sie zeigen auch einen Weg, den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der Faschisten des RN zu bekämpfen. Frankreich bewegt sich auf eine Phase der Großkonfrontation zwischen Rechts und Links zu.
Parlamentarische Manöver reichen nicht
Wichtig ist, wie sich die organisierte Linke verhält. Es ist gut, dass sich die linke Parlamentsfraktion der La France Insoumise (LFI) unter Jean-Luc Mélenchon gegen alle Macron-Regierungen und deren Haushaltsgesetzentwürfe stellt. Stattdessen fordert die LFI die sogenannte Zucman-Steuer, wonach alle Vermögen oberhalb von 100 Millionen Euro mit jährlich zwei Prozent besteuert und so viele zusätzliche Milliarden in den Staatshaushalt fließen würden.
Im Sommer 2024 konnte LFI zusammen mit den Kommunisten, den Grünen und der PS zusammen in einer „Neuen Volksfront“ den erwarteten Wahlerfolg des RN verhindern.
Doch seitdem hat sich die PS aus dem Bündnis heraus verhandeln lassen. Neue Absprachen für zukünftige Wahlen im Rahmen der „Neuen Volksfront“ drohen zu scheitern. Dies zeigt, dass rein parlamentarische Manöver nicht reichen werden, um den RN zu stoppen.
Nur die Eskalation des Klassenkampfs kann das Kräftegleichgewicht in Frankreich nach links kippen. Dies ist möglich.
Wir stehen potenziell vor einer Situation wie im Mai 1968, wo ein zweiwöchiger Generalstreik eine vorrevolutionäre Situation mit globaler Ausstrahlung schuf.
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Update: In seiner Rede vor der Nationalversammlung am Nachmittag des 14. Oktober kündigte Sébastien Lecornu die Aussetzung der Rentenreform bis zur Präsidentschaftswahl im Jahr 2027 an! Das heißt: das Renteneintrittsalter wird vorerst auf 62 Jahre und 9 Monate eingefroren. „Das ist ein erster Sieg für 500.000 Lohnabhängige, die davon allein in diesem Jahr profitieren werden,“ so Fabien Roussel, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Frankreichs. Roussel weiter: „Setzen wir den Kampf bis zur vollständigen Abschaffung der Rentenreform fort!„
Schlagwörter: Frankreich, Macron, Melenchon
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