Die Doppelstrategie des Rassemblement National – und wie er besiegt werden kann
In Frankreich droht der faschistische Rassemblement National bei den Wahlen am 7. Juli die Mehrheit der 577 Sitze der Nationalversammlung zu gewinnen. Dagegen stellt sich eine Front linker Parteien. Der Ausgang der Wahlen kann auch auf Deutschland massiv ausstrahlen. Reuven Neumann erklärt die Hintergründe.
Im Juni konnte der Rassemblement National (RN) unter Führung von Marine Le Pen bei den Europawahlen in Frankreich die Wahlen klar gewinnen. Das war ein Schock. Um das Problem noch größer zu machen, löste der rechtsliberale Präsident Emmanuel Macron das Parlament (Nationalversammlung) und damit die Regierung auf. Im ersten Durchgang erreichte der RN mit 33 % erneut die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen. Das neu geschaffene Linksbündnis Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront) kam auf 28 %. Die bürgerliche „Mitte“ um Macron ist desavouiert: Sein Parteichef wechselte zum RN, die Partei des Präsidenten kam nur noch auf 20 %.
Da in Frankreich die Sitze in der Nationalversammlung nach Mehrheitsprinzip in den Wahlkreisen vergeben werden, kommt es fast überall am 7. Juli zu Stichwahlen.
Sicher ist: In Frankreich spitzt sich alles auf einen Kampf rechts gegen links zu – wie in den 30er Jahren. Die aktuellen Wahlen sind nur der erste Höhepunkt in diesem Konflikt, und ihr Ausgang ist offen, während wir diesen Text schreiben. Hier soll es darum gehen, die Hintergründe zu erklären.
Fassade verändert, Kern bleibt
Vorläufer des RN war die Front National (FN) unter Marine Le Pens Vater, Jean-Marie Le Pen. Nachdem die Tochter das Ruder übernommen hat, verfolgte sie das Ziel, die Isolation gegenüber dem konservativen Lager zu durchbrechen und das Schmuddelimage loszuwerden – ohne deshalb auf das Kernmerkmal, den Rassismus, zu verzichten.
Viele Konservative und bürgerliche Medien sind darauf hereingefallen und haben dadurch zu den Wahlerfolgen des RN beigetragen. Was sie übersehen: Der Name wurde geändert, Provokationen reduziert. Doch organisch hat der RN nie mit der FN gebrochen.
Die Front National
Die Vororganisation des Rassemblement National, die Partei Front National, wurde im Oktober 1972 unter anderem von Jean Marie Le Pen, dem Vater von Marie Le Pen gegründet. Dessen Biographie ist eng verknüpft mit der Entstehung der extremen politischen Rechten in Frankreich.
Er kämpfte in den Kolonialkriegen in Indochina (Vietnam) und Algerien in den 50er Jahren für die französische Armee. Le Pen wurde nachgewiesen, dass er 1957 in Algier persönlich Algerier gefoltert hatte. Später wurde er Mitglied der OAS (Organisation Armée Secrète), die ab 1961 mit terroristischen Mittel die Loslösung Algeriens von Frankreich verhindern wollte. Die OAS war für Hunderte Bombenanschläge in Algerien und Frankreich, sowie zahllose Morde und Entführungen verantwortlich. Präsident de Gaulle überlebte mehrere Anschläge der OAS nur knapp.
Der Terrorkrieg der OAS und die Flucht von Hunderttausenden Algerienfranzosen („Pieds-Noirs“) nach Frankreich im Zuge der Unabhängigkeit Algeriens 1962 bildete das soziale Reservoir heraus, aus dem die FN zehn Jahre nach der algerischen Unabhängigkeit entstand. Sie setzte sich bei ihrer Gründung aus unterschiedlichen Komponenten zusammen, darunter alte Kollaborateure aus der Zeit der Nazibesatzung im Zweiten Weltkrieg, als auch kleine Gruppen französischer Neo-Nazis.
Die Front National griff den „Verzicht“ de Gaulles auf Algerien an und war ein Rückzugsort von Kolonialnostalgikern. Vor allem aber war sie eine Gegenreaktion auf den Aufschwung der kommunistischen und revolutionären Linken, die infolge eines großen Generalstreiks im Mai 1968 kurz vor der Machteroberung gestanden hatte.
Mit der FN wollten Le Pen und andere 1972 so etwas wie einen neuen Sammlungsort für die französische extreme Rechte schaffen. Ihr Symbol, die Flamme in den Farben der Trikolore, war dem Parteisymbol der italienischen Faschisten nachempfunden.
In den 80er Jahren konnte sich der FN immer stärker innerhalb des politischen Systems etablieren. So erreichte der FN bei den Präsidentschaftswahlen 1974 zunächst nur 0,7 % der Stimmen. Der Durchbruch gelang Anfang der 80er Jahre bei den Europawahlen, nachdem die Regierung aus Sozialisten und Kommunisten unter Präsident Francois Mitterrand ihre Anhänger und Wähler maßlos enttäuscht hatte.
Bis 1988 konnte die FN ihren Stimmenanteil auf 14,4 % steigern. Bei den Wahlen 2002 schaffte es Jean-Marie Le Pen sogar, den damaligen Kandidaten der sozialistischen Partei Lionel Jospin auf den zweiten Platz zu verweisen. Er scheiterte erst im zweiten Wahlgang an dem späteren Präsidenten Jacques Chirac.
Le Pens Tochter Marine wurde 2011 zur Vorsitzenden der Partei gewählt. Die Zustimmung für die Front National stieg weiter. Bei den Wahlen 2012 holte sie bei den Präsidentschaftswahlen über 6 Millionen Stimmen und fünf Jahre später bereits 7,6 Millionen Stimmen.
Auch wenn Marine Le Pen der Partei 2018 einen neuen Namen („Nationale Versammlung“ statt „Nationale Front“) verschaffte, veränderte sich programmatisch wenig. Damals wie heute steht die vermeintliche Bedrohung durch Einwanderung und der damit verbundene Verlust der „französischen Identität“ im Zentrum. Insbesondere der Islam wird als eine existentielle Bedrohung porträtiert.
Den Kern des RN-Apparates machen Mittelschichtler aus. Ihr Rassismus kann die Wahlstimmen desorierentierter Lohnabhängiger einsammeln, die vom Kapitalismus in Existenzängste und Aggressionen getrieben werden. Ängste, denen die sozialdemokratische, grüne und kommunistische Linke an der Regierung in den letzten Jahrzehnten nichts entgegenzusetzen hatten. Der Inflationsschub der letzten zwei Jahre hat seinerseits die Verzweiflung gesteigert und viel zum aktuellen Erfolg des RN beigetragen.
Ist der RN faschistisch?
Marine Le Pen verfolgt eine Strategie, in der es vor allem um die „Entdämonisierung“ der Partei geht. Sie erklärte ihre Loyalität gegenüber dem politischen System Frankreichs und betonte, dass sie sich im Rahmen des parlamentarischen Systems zu bewegen beabsichtigte. Der Grund ist einfach: Mit der Linie ihres Vaters schien es zunehmend unmöglich, über 20 % bei den Präsidentschaftswahlen hinauszukommen.
Der Rauswurf ihre Vaters Jean Marie Le Pen aus der Partei 2015 ging der Umbenennung voraus. Dieser hatte 1987 zum ersten Mal und dann wiederholt betont, dass der „Holocaust nur als ein Detail der Geschichte“ betrachtet werden könne. Diese Verharmlosung der Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs führte zu einer breiten Empörung innerhalb der französischen Gesellschaft und bremste das Wachstum der Zustimmung.
Die Doppelstrategie – Aufbau eines faschistischen Kerns im Inneren, gemäßigte Fassade nach außen – hatte Marine Le Pen nicht erfunden. Sie verfolgte diesen allerdings konsequenter als ihr Vater Jean-Marie Le Pen zuvor. Hinter der äußeren angepassten Fassade äußerst sie sich ihr immer rassistisch und beschwört die vermeintliche Bedrohung durch muslimische Einwanderung. So signalisiert sie ihren Anhängern: Wenn wir die Chance dazu haben, machen wir ernst.
Ein perfides Beispiel: Sie verglich Muslime, die aus Platzmangel auf der Straße beteten, mit der deutschen Besatzung durch Nazis während des Zweiten Weltkriegs. Die implizite Schlussfolgerung kann jeder für sich ziehen: Gegen eine „externe“ Bedrohung wie durch die Einwanderung von Muslime hilft nur Krieg.
Zugleich leugnet sie die Verantwortung des kollaborierenden französischen Vichy-Regimes für die Deportation von Juden während der deutschen Besatzung. Sie warnt vor den Gefahren der Globalisierung als eine „totalitäre Ideologie“, von der nur einige wenige große Unternehmen profitieren würden. Hier stellt sie sich als Beschützer der kleinen Leute in Frankreich dar, deren Existenz durch Migration und Profimaximierung bedroht seien – eine Anlehnung an klassische faschistische Deutungsmuster.
Die Doppelstrategie des RN drückt sich auf der programmatischen Ebene so aus: Auf der einen Seite eine demokratische Maske und ein demokratisches Antlitz wahren, auf der anderen Seite rassistisch hetzen und die Kollaboration der französischen Faschisten mit den Nazis relativieren.
Die Krise des politischen Systems
Die zunehmende Hilflosigkeit der bürgerlichen und reformistischen Parteien, für die anstehenden Probleme Lösungen zu finden, nähren die Zustimmung für die rechten Parteien. Der Versuch, die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise auf Kosten der breiten Bevölkerung zu lösen, führte dazu, dass gerade Sozialdemokraten als auch die bürgerlichen Parteien einen Großteil ihrer Stammwählerschaft vergrault haben.
Dies zeigen die Ergebnisse in Frankreich. Stattdessen wird durch eine verstärkte Debatte über eine vermeintliche Bedrohung durch islamistischen Terror, über eine Verstärkung von Abschiebungen und gleichzeitig einer Abschottung der europäischen Außengrenzen vor Geflüchteten versucht, von der eigentlichen Krise abzulenken. Dies spielt letztlich nur den rechten Kräften in die Hände.
Wie wenig Antworten auf diese Entwicklung angeboten werden, verdeutlichte sich in der Reaktion auf die Wahlniederlage bei den Europawahlen mit der Auflösung des Parlaments und der Ausrufung von Neuwahlen. Die oft betonte Distanzierung des bürgerlichen Lagers zu den Faschisten bröckelt. Dies zeigte sich, als der Vorsitzende der konservativen Partei (Les Républicains) Eric Giotti der RN die Zusammenarbeit anbot. Auch rief Wirtschaftsminister Bruno Le Maire dazu auf, den Kandidaten der Linken in der Stichwahl keine Stimme zu geben selbst – wenn dies bedeuten würde, dass Rechte gewinnen würden.
Die Linke
Nach dem Sieg der RN bei den Europawahlen war der Schrecken bei der Linken groß. Zwei Tage danach trafen sich in Paris Vertreter linker Parteien, darunter Mélénchons La France Insoumise (LFI) und die Sozialisten um ein neues linkes Bündnis für die anstehenden Wahlen zu gründen. Ein zuvor existierendes linkes Bündnis hatte sich noch im Oktober 2023 trotz der drohenden rechten Gefahr über die Haltung zum Nahostkonflikt zerstritten.
Während jetzt die Vertreter erneut zusammenkamen demonstrierten hunderte Menschen davor auf der Straße, skandierten „Einigt Euch!“. Sie betonten damit die Dringlichkeit einer Zusammenarbeit. Tatsächlich schafften es die Parteien zu einem Konsens zu gelangen und schufen mit der Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront) einen Zusammenschluss, der den Wahlsieg der RN noch verhindern soll.
Tatsächlich aber zeigt sich die Fragilität des Bündnisses, da die einzelnen Teile sich doch als sehr heterogen erweisen und von den Sozialdemokraten, der Kommunistischen Partei bis zu relativ linken Kräften wie LFI reichen. Zum anderen war es vor allem der massive Druck von unten, der dazu beigetragen hatte zu einem Kompromiss zu gelangen.
Das Problem: Auch die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften wird akzeptiert, die durch Sozialkürzungen und Rassismus insbesondere gegen Muslime gerade erst die Atmosphäre geschaffen haben, in welcher der RN so an Zustimmung gewinnen konnte. Allein eine Orientierung auf die Wahlen wird den Aufstieg der RN nicht verhindern können. Notwendig ist dafür eine Massenbewegung auf der Straße.
Demonstrationen und Widerstand
Noch vor den Wahlen Mitte Juni gingen 640.000 Menschen in ganz Frankreich gegen den RN auf die Straße, 250.000 allein in Paris. Insbesondere linke Organisationen und Gewerkschaften hatten hierzu aufgerufen.
Das dies der einzige Weg ist, um die faschistische Gefahr zu stoppen, zeigt die historische Erfahrung. 1995 kam es in Frankreich zu einer breiten Streikwelle im Öffentlichen Dienst die Hunderttausende Arbeiternehmer umfasste und sich gegen Kürzungen der Sozialprogramme richtete. Diese Streiks und die daraus resultierende politische Atmosphäre führten dazu, dass die innerhalb der Partei bestehenden Spannungen innerhalb der Front National zwischen dem damaligen Vorsitzenden Jean Marie Le Pen und seinem stellvertretenden Vorsitzenden Bruno Megret aufbrachen und so groß wurden, dass sich die Partei schließlich spaltete.
Der Druck der Straße und in den Betrieben hatte die bestehenden Spannungen verstärkt und auch das Doppelgesicht der Faschisten demaskiert. Dies zeigt, dass auch heute der Aufstieg des RN in Frankreich keinesfalls unaufhaltsam ist.
Schlagwörter: Antifaschismus, Frankreich, Rassemblement national