Der Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza dauert seit fast einem Jahr an. Nun droht nach der Ermordung des palästinensischen Verhandlungsführers Haniyeh durch Israel auf iranischen Boden ein regionaler Flächenbrand. Insbesondere die Grenzgefechte im Südlibanon drohen sich zu einem umfassenden Krieg zwischen Israel und der Hisbollah auszuweiten. Dies wirft die Frage nach dem historischen Hintergrund und den Charakter der Hisbollah auf.
Wir veröffentlichen dazu einen Auszug der Analyse des libanesischen Sozialisten Simon Assaf, die im April 2024 im ‚International Socialism Journal“ erschien. Den vollständigen Artikel kannst Du am Textende als PDF herunterladen.
Von Simon Assaf
Der Libanon steht im Fadenkreuz des Imperialismus. Zusammen mit dem Jemen ist er eines der beiden Länder, die derzeit militärische Aktionen zur Unterstützung der Palästinenserinnen und Palästinenser durchführen. Die besorgniserregende Aussicht, dass der Krieg im Gazastreifen auch auf die Nordgrenze Israels übergreifen könnte, beunruhigt jedoch die führenden Politiker im Westen.
Israel ist im Laufe seiner Geschichte dreimal in den Libanon einmarschiert: 1978, 1982 und 2006. Bei der letzten Konfrontation fügte die Hisbollah (die „Partei Gottes“) Israel in einem 33-tägigen Krieg eine demütigende Niederlage zu. Trotz der Grausamkeit der Kriege und der unverhältnismäßig hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung konnte Israel sein Hauptziel, die Zerschlagung des Widerstands, nicht erreichen.
Allerdings hat sich seit 2006 einiges verändert. Die Hisbollah ist inzwischen für das Funktionieren des libanesischen Staates unverzichtbar geworden und hat beschlossen, neoliberalen Reformen Vorrang vor den Bedürfnissen der einfachen Menschen einzuräumen. Zudem hat sie das Regime von Bashar al-Assad bei der Niederschlagung der syrischen Revolution unterstützt und dazu beigetragen, das schwankende politische System des Libanon inmitten der sogenannten Oktoberrevolution 2019 wieder zu stabilisieren. Auch hat sich der Klassencharakter der Partei grundlegend verändert. Sie hat sich von ihrer traditionellen Basis unter den verarmten schiitischen Muslimen entfernt und wird nun weitgehend von einer neuen Mittelschicht dominiert.
Die Vereinigten Staaten und Frankreich sowie pro-westliche arabische Regime haben die Zerstörung der Hisbollah zu einer strategischen Priorität gemacht. Der Imperialismus sieht in einem starken libanesischen Staat ein Gegengewicht zu dieser Partei. Doch die libanesischen Sicherheitskräfte sind der Stärke der Hisbollah nicht gewachsen, und es bestehen Zweifel am Zusammenhalt der Armee, vor allem wenn sie den Befehl erhalten sollte, schiitisch dominierte Gebiete anzugreifen. Für die westlichen Mächte steht viel auf dem Spiel, doch die Kriegsdynamik hat ihre eigene Logik, angetrieben von einer israelischen Regierung, die zunehmend bereit ist, alles zu riskieren, um sowohl die palästinensische als auch die libanesische Frage auf einen Schlag zu regeln.
Eine Militärmacht
Die derzeitige militärische Stärke der Hisbollah wird unterschiedlich eingeschätzt. Wenn man ihre Verbündeten mit einbezieht, kann sie Zehntausende von gut ausgebildeten und motivierten Kämpfern einsetzen. Außerdem verfügt sie über ein Arsenal von mehr als 100.000 Raketen, darunter Lenkwaffen, die wichtige strategische Ziele tief im israelischen Hoheitsgebiet erreichen können, wie z.B. petrochemische Anlagen. Zu ihrem Waffenarsenal gehören auch Anti-Schiffs-Raketen mit einer Reichweite von 200 Meilen und moderne Panzerabwehrwaffen. Die Gruppe soll Flugabwehrsysteme erworben haben, die die israelische Luftüberlegenheit über dem Südlibanon bedrohen. Diese Kampffähigkeit ist in einem tiefen und ausgedehnten Netz unterirdischer Schächte und Bunker verwurzelt, welches die Israelis als „Land der Tunnel“ bezeichnen.1
Die anhaltenden Scharmützel niedriger Intensität haben Israel verunsichert. Durch die Ermordung von Hamas- und Hisbollah-Kommandeuren und den Einsatz von Phosphorgranaten in der Wildnis, auf Bauernhöfen, in Obstplantagen und Olivenhainen hat Israel bereits über 100.000 Libanesinnen und Libanesen vertrieben. Als Vergeltung hat die Hisbollah Raketen auf Militärbasen und Grenzanlagen abgefeuert, was zur Vertreibung von etwa 80.000 Israelis aus ihren Häusern führte.
Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit und ein führender Vertreter des ultrarechten Flügels des Landes, möchte, dass Netanjahus Kriegskabinett die Einsatzregeln neu fasst. Er behauptet, dass „es an der Zeit ist, die derzeitige Annahme im Norden mit dem Libanon aufzugeben“, und bezieht sich dabei auf informelle Vereinbarungen, die bisher das Ausmaß militärischer Aktionen entlang der Grenze begrenzt haben.2 Die Logik des Krieges könnte seinen Wunsch erfüllen. Die jüngsten Ereignisse deuten auf eine Ausweitung der Feindseligkeiten über die vereinbarten geografischen Grenzen von 20 Kilometern beiderseits der Grenze hinaus hin. Auf jeden israelischen Angriff antwortet die Hisbollah mit der Drohung der Eskalation. Das Gespenst eines ausgewachsenen Krieges geht um, zumal die USA deutlich gemacht haben, dass eine mögliche Waffenruhe im Gazastreifen nicht auf den Libanon ausgedehnt würde.3 Dennoch ist ein Sieg Israels auf diesen Schlachtfeldern alles andere als sicher.4
Der wachsende Druck innerhalb des Netanjahu-Kabinetts für eine Militäroffensive verdeckt die Tatsache, dass eine Strategie wie in Gaza, die Menschen mit Bombardements zu überziehen, im Libanon nicht durchführbar ist. Anders als im Gazastreifen gibt es keine physischen Barrieren, in denen die Menschen eingesperrt sind. Auch gibt es kein willfähriges, vom Westen unterstütztes Regime, das eine Belagerung durchsetzen könnte. Stattdessen müsste Israel eine Massenvernichtung im ganzen Land entfesseln, auch in Gebieten außerhalb der traditionellen Hisbollah-Hochburgen in Südbeirut, im Bekaa-Tal und im Südlibanon. Dies würde die Anwendung von Israels sogenannter Dahieh-Doktrin bedeuten, d.h. den kalkulierten Einsatz von unverhältnismäßiger und massiver Gewalt gegen Zivilisten, um seine Kriegsziele zu erreichen.5
Der Libanon ist ein Flickenteppich von Regionen, und Israel wird zögern, einige davon in einen Krieg zu verwickeln. Ostbeirut und seine Umgebung sind überwiegend christlich geprägt, während die Vororte Beiruts aus ethnisch vielfältigen Arbeitervierteln bestehen. Das historische Handelszentrum der Hauptstadt wird von saudischen Investitionen dominiert. Die Zukunftsbewegung von Saad Hariri, einer pro-westlichen Partei, die der Hisbollah feindlich gesinnt ist, hat in vielen sunnitisch-muslimischen Vierteln im Westen Beiruts die Oberhand.6 Eine ähnliche demografische Mischung findet sich in den meisten größeren Städten.
Darüber hinaus beherbergt der Libanon rund eine halbe Million Palästinenserinnen und Palästinenser, die sich auf 12 Flüchtlingslager verteilen – vor allem in den südlichen Städten Saida und Tyrus, in den Beiruter Stadtteilen Sabra und Shatila sowie im Norden und im Bekaa-Tal.7 Diese Lager stehen unter der Kontrolle verschiedener palästinensischer Gruppen, darunter die Hamas und die Fatah, aber auch linke Organisationen wie die Volksfront für die Befreiung Palästinas und die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas.8 Viele dieser Lager sind auf Dienstleistungen angewiesen, die vom Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) finanziert werden, das nun von Haushaltskürzungen bedroht ist, was die allgemeine Wirtschaftskrise im Lande verschärft.9
Angesichts der Schwierigkeiten, einen Krieg gegen den Libanon zu führen, gibt es keine Garantie dafür, dass eine weitere israelische Militärkampagne ihre Ziele erreichen könnte. Der Washington Post zufolge waren die USA entschlossen, Netanjahu zu zügeln, da sie besorgt waren, was ein Krieg im Libanon möglicherweise entfesseln könnte:
„Biden telefonierte bis zu dreimal am Tag… und versuchte, Israel davon abzubringen, die Hisbollah anzugreifen – ein Schritt, der dazu geführt hätte, dass „die Hölle losgebrochen“ wäre… Die große Angst der Israelis vor der Bedrohung beeinflusste Bidens Entscheidung, weniger als zwei Wochen nach dem Hamas-Angriff nach Tel Aviv zu fliegen, so ein hoher Beamter.“10
Die Gefahr einer Ausweitung des Krieges liegt in der schwindenden Macht der USA in der Region begründet, insbesondere nach dem Debakel im Irak.11 Da regionale Mächte wie der Iran, die Türkei und die Königreiche am Golf um die Vorherrschaft im Libanon wetteifern, ist Frankreich zunehmend besorgt, die Loyalität der christlichen Bevölkerung des Landes zu verlieren, da die Aussicht auf einen eskalierenden Konflikt seinen bestehenden Einfluss zu untergraben droht. Die Warnung der Hisbollah, dass jeder israelische Angriff auf Beirut Raketenangriffe auf Tel Aviv auslösen würde, trägt nur dazu bei, die Spannungen weiter zu erhöhen.12
…
Der Juli-Krieg 2006
Im Juli 2006 setzte Israel seine Dahieh-Doktrin der Massenvernichtung ein. Doch obwohl es den Libanon 33 Tage lang unerbittlich bombardierte, konnte Israel seine Ziele erneut nicht erreichen. Der Juli-Krieg war ein Versuch, die Infrastruktur der Hisbollah im Süden des Landes zu zerstören, doch er wurde zu einer der bedeutendsten Niederlagen Israels seit seiner Gründung im Jahr 1948. Die Hisbollah überlebte den israelischen Angriff nicht nur, sondern ging sogar mit gestärktem politischen Einfluss aus ihm hervor. Die Niederlage bedeutete einen schweren strategischen und psychologischen Schlag für Israel und vereitelte die Ambitionen des US-Präsidenten George W. Bush und des britischen Premierministers Tony Blair, den iranischen Einfluss im Libanon zu neutralisieren und ihre ins Stocken geratene Besetzung des Irak zu stabilisieren.
Israel bombardierte die Vororte von Beirut, Städte und Dörfer im Süden, das Bekaa-Tal und wichtige Infrastrukturen im ganzen Land. Die israelische Offensive stachelte jedoch nicht den Widerstand gegen die Hisbollah an, sondern löste eine Solidaritätsbewegung zur Unterstützung des Widerstands aus. Die schiitischen Viertel leerten sich, und viele Bewohner fanden Zuflucht in christlichen Gebieten sowie jenseits der syrischen Grenze. Die Gründung von Samidoun, einer von einer kleinen Gruppe revolutionärer Sozialisten geleiteten Hilfsorganisation, festigte den Rückhalt der Bevölkerung für den Widerstand.17 Chris Harman skizzierte das Ausmaß des israelischen Rückschlags im Jahr 2006:
„Was als ein von langer Hand geplanter israelischer Angriff mit dem Ziel der Vernichtung der Hisbollah begann, endete mit einer Demütigung Israels. Dieses Ergebnis war nicht nur ein Schock für das israelische Militär. Es war auch ein vernichtender Schlag für Bush und seinen Juniorpartner Blair bei ihrem Versuch, die globale Hegemonie der USA nach dem Debakel ihres Irak-Abenteuers zu retten. Die US-Regierung hat dem israelischen Militär zumindest eine Freigabe erteilt und war möglicherweise an der Planung des Angriffs vom 12. Juli beteiligt … Das Ziel war einfach. Die Israelis sollten dem iranischen Einfluss im Libanon – und hoffentlich auch dem iranischen Einfluss auf die Schiiten im Irak – als Teil der Offensive gegen den Iran selbst einen vernichtenden Schlag versetzen … Was als großer militärischer und politischer Fortschritt für Israel und die USA gedacht war, verkehrte sich in sein Gegenteil.“18
Widerstand und Kompromisse
Der Sieg der Hisbollah im Krieg 2006 zog die arabische Welt in ihren Bann und zeigte, dass kompromisslose Opposition gegen Israel nicht mehr unbedingt ein Rezept für eine Niederlage ist. Dennoch sollte die Partei diesen Sieg letztlich verspielen, indem sie in das sektiererische System des Libanon hineingezogen wurde und inmitten der arabischen Revolutionen von 2011 ihre Bedeutung verlor. Dieser Weg von einer populären Widerstandsbewegung zu einer tragenden Säule des Staates ist ein Weg, den nationale Befreiungsbewegungen häufig beschreiten.
Im Gegensatz zu den traditionellen politischen Parteien ist die Hisbollah nicht entstanden, um die konfessionellen Eliten des Libanon zu vertreten, sondern aus den am stärksten benachteiligten Teilen der libanesischen Gesellschaft. Die schiitischen Muslime waren in einem System, das seine Wurzeln im Kolonialismus hat und die politische Macht nach religiösen Gesichtspunkten verteilt, historisch unterrepräsentiert. Schiitische Muslime, die ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, bekamen die Regierungsposten mit geringstem Einfluss. Diese systembedingte Marginalisierung bot in den Jahren vor dem Bürgerkrieg einen fruchtbaren Boden für linke und andere radikale Gruppen. In den 1980er Jahren hatte die Hisbollah die vielen in den schiitischen Gebieten vorherrschenden linken Parteien in den Schatten gestellt und gab trotz ihrer Verwurzelung im Islamismus den Bestrebungen nach wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit eine Stimme. Ihr Anführer Hassan Nasrallah wurde in Bourg Hammoud geboren, einem verarmten Viertel in der Nähe des Hafens von Beirut, das von armenischen Überlebenden des osmanischen Völkermords gegründet wurde. Er wurde als talentierter Kommandant im Widerstand gegen die Besatzung bekannt.
Die Hisbollah entwickelte sich zu mehr als nur einer militärischen Organisation und dehnte ihren Einfluss auf die Sozialhilfe aus, indem sie Kliniken, Krankenhäuser, Schulen und kommunale Dienste einrichtete, die häufig den libanesischen Staat ersetzten. Durch den Betrieb eines voll ausgestatteten Fernsehsenders, al-Manar (Der Leuchtturm), und die Vertretung in Berufsverbänden und Gewerkschaften festigte die Hisbollah ihren Einfluss in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Ihr Engagement für die Verteidigung des Südens führte jedoch zu einem ihrer größten Widersprüche.
Nach dem Krieg von 2006 begrüßte die Partei das Diktat der sogenannten Pariser Abkommen, die internationale Mittel für den Wiederaufbau freisetzten, allerdings um den Preis der Umsetzung einer umfassenden neoliberalen Politik, die für die libanesische arbeitende Klasse verheerend war.19 Um die Auswirkungen dieser Reformen abzumildern, hielt die Hisbollah ein System der sozialen Wohlfahrt aufrecht, das durch Überweisungen und Gelder aus dem Iran und Katar unterstützt wurde. Dieser Geldzufluss förderte jedoch die Bürokratisierung der Partei und begünstigte das Entstehen einer neuen Klasse von Unternehmern, die in Südbeirut mit Immobilien spekulieren. Infolgedessen richteten sich die sozialen Netze der Hisbollah zunehmend an eine aufstrebende Mittelschicht, und ihre Krankenhäuser und Schulen gehörten zu den teuersten des Landes. Zu Beginn der arabischen Revolutionen im Jahr 2011 ähnelte die Hisbollah zunehmend anderen politischen Parteien der Mittelschicht.
Wie frühere Widerstandsbewegungen ist die Hisbollah von externer Unterstützung abhängig geworden, eine Dynamik, die ihre Autonomie gefährdet. Da die Organisation bei der Beschaffung von Waffen auf den Iran und Syrien angewiesen ist, geriet sie in Konflikt mit dem Geist der Revolutionswelle von 2011. Als Reaktion auf den Aufstand in Syrien nutzte Nasrallah den Status des Widerstands, um die Unterstützung für das Assad-Regime zu stärken. Er prangerte den syrischen Aufstand als „ausländisches Komplott“ und die Revolutionäre als „salafistische Fanatiker“ an.20 Indem sie Tausende ihrer Kämpfer zur Unterstützung des syrischen Staates einsetzte, entfremdete sich die Hisbollah von der breiten Unterstützung der Bevölkerung, die sie 2006 genossen hatte. Als Organisation, die in die kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet und von ihnen abhängig ist, milderte die Hisbollah zudem ihre sozialen und wirtschaftlichen Forderungen.
Bassem Chit, ein libanesischer Marxist, schrieb:
„Hassan Nasrallahs berühmter Satz – „wir werden uns nicht hinter einem Laib Brot verstecken“ – und die Unterstützung der Hisbollah für die Privatisierung, ihre Ablehnung der Forderungen des gewerkschaftlichen Koordinierungsausschusses und die Vereinbarung, die sie mit der [sektiererischen schiitischen] Amal-Bewegung und der [prowestlichen] Freien Patriotischen Bewegung getroffen hat, um die Arbeiter der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft daran zu hindern, ihre Forderungen durchzusetzen, sind ein Beweis für den bürgerlichen Charakter der Hisbollah … Die Hisbollah ist eindeutig in eine Phase des bürokratisch-bürgerlichen Wachstums eingetreten, insbesondere seit dem israelischen Krieg gegen den Libanon im Juli 2006. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie ihre Kader und Mitglieder den Reichtum und die Privilegien zur Schau stellen, die sie genießen, wie etwa soziale, wirtschaftliche, bildungsbezogene und gesundheitliche Dienstleistungen. Dies führt natürlich zu einer Spaltung zwischen dieser arrivierten Bürokratie und der breiten Masse, auf die sich die Hisbollah stützt, um ihre politische Legitimität bei Wahlen und Volksversammlungen zu behaupten. Dies zeigt sich mitunter in den latenten Beschwerden einfacher Hisbollah-Anhänger, die ihren Unmut über die Zurschaustellung von Reichtum und den schikanösen Einfluss zum Ausdruck bringen, den Mitglieder dieser bürokratischen Clique häufig auf andere Menschen in den Vierteln ausüben, in denen sie tätig sind.“21
Die Eingliederung der Hisbollah in den Staat bot ihr während des Krieges 2006 einen gewissen Schutz, doch ihre eigentliche Macht beruht auf ihrer sozialen Basis und ihrer breiten Unterstützung in der Bevölkerung, unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Durch den Beitritt zur Regierung und politische Zugeständnisse wurde die Fähigkeit der Hisbollah, soziale und wirtschaftliche Fragen anzugehen, eingeschränkt, was ihr Potenzial schmälerte, eine Stimme der Armen zu werden und konfessionelle Politiker herauszufordern.
Der Druck, im Namen des „nationalen Interesses“ Kompromisse mit dem Imperialismus einzugehen, wird am besten durch das Gasförderungsabkommen zwischen dem Libanon und Israel vom Oktober 2022 veranschaulicht, bei dem die Hisbollah eine aktive Rolle spielte. Im Rahmen des Abkommens erhielt Israel die Rechte zur Ausbeutung von etwa 1,75 Billionen Kubikfuß Gas im Wert von 3 Milliarden Dollar, die sich unter 300 Quadratmeilen des Mittelmeers nahe der Seegrenze zwischen Israel und Libanon befinden. Im Gegenzug sicherte sich der Libanon über französische Vertragspartner den Zugang zu einem angrenzenden Gasfeld im Wert von 200 Millionen Dollar jährlich. Obwohl das Abkommen als Sieg für den Libanon angepriesen und durch die militärische Stärke der Hisbollah begünstigt wurde, sichert es Israel einen Anteil von 17 Prozent an allen künftigen Gewinnen aus dem libanesischen Gasfeld und die vollständige Kontrolle über das benachbarte Karish-Feld. Während die Drohung der Hisbollah, Israels Gasanlagen und Versorgungsschiffe anzugreifen, den Ausschlag für die Verhandlungen gab – eine Aktion, die die Möglichkeiten des schlecht ausgerüsteten libanesischen Militärs überstieg –, stellt das Abkommen mit Israel einen Präzedenzfall dar: eine effektive Anerkennung Israels, wenn auch durch diplomatische Manöver verschleiert.22
Die ideologische Haltung der Hisbollah hat sich in einer Reihe von Fragen nach rechts verschoben, z. B. durch die Forderung nach der Ausweisung syrischer Flüchtlinge – eine Position, die mit den Forderungen rechtsextremer christlicher Parteien übereinstimmt.23 Darüber hinaus hat sich die Hisbollah in den Chor derjenigen eingereiht, die eine moralische Panik in Bezug auf die Sexualität schüren, und sich den reaktionärsten Teilen der libanesischen Gesellschaft in einer von Saudi-Arabien initiierten Kampagne angeschlossen.24 Die Beteiligung der Hisbollah an den Kulturkriegen im Libanon ist Teil eines umfassenderen ideologischen Angriffs auf die Oktoberrevolution vom 17. Oktober, eine der größten Volksrevolutionen in der Geschichte des Libanon.
Die libanesische Oktoberrevolution
Als sich das leidgeprüfte libanesische Volk im Oktober 2019 zur Rebellion erhob, fand sich die Hisbollah auf der falschen Seite der Barrikaden wieder. Die Revolution vom 17. Oktober zeigte die Grenzen der Hisbollah und ihrer Strategie der Integration in das politische System des Libanon auf. Nasrallah bezeichnete den Sieg über Israel im Jahr 2006 als einen „Sieg Gottes“, in Wahrheit wurde er durch die unglaubliche Solidarität der einfachen Menschen erreicht. Während dieser Zeit erlebte die Hisbollah einen außergewöhnlichen Popularitätsschub. Dieser Sieg markierte jedoch auch einen Wendepunkt. Als 2008 die wirtschaftliche Unzufriedenheit an die Oberfläche kam, stellte Nasrallah das vermeintliche „nationale Interesse“ über das Wohl der Volksmassen. Wie bereits erwähnt, setzte die Hisbollah während der arabischen Revolutionen Truppen ein, die zuvor zur Sicherung der Südgrenze des Libanon eingesetzt worden waren, um die Revolution in Syrien zu unterdrücken. Damals hatte Nasrallah „ausländische Verschwörungen“ heraufbeschworen; jetzt wiederholte er dasselbe Narrativ, um die Oktoberrevolution im Libanon zu diskreditieren.
Trotz seiner Unzulänglichkeiten stellte der Aufstand eine der größten Bewegungen in der Geschichte des Libanon dar…
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Schlagwörter: Hisbollah, Libanon, Nasrallah