Der israelische Geheimdienst Mossad präpariert Tausende von ›Pagern‹ und Walkie-Talkies mit Sprengstoff und zündet sie gleichzeitig. Dann folgen massive Bombenangriffe auf den Libanon. Die Bilanz: Hunderte Tote, Tausende Verletzte. Die Botschaft ist eindeutig: Nach dem Massaker in Gaza will Israels Ministerpräsident Netanjahu nun den Krieg gegen das Nachbarland im Norden.
Von Yahya Abu Nidal
Israels Bildungsminister Yoav Kisch erklärte am 4. Juli gegenüber dem Sender Channel 14:
»Es gibt keinen Unterschied zwischen Hisbollah und Libanon. So wie es vorangeht, werden wir den Libanon vernichten […] Der Libanon wird aufhören zu existieren.«
Diese Worte hallten nach, als in der vergangenen Woche seine Operation ›Northern Arrows‹ (Nördliche Pfeile) startete. Am Montag forderte sie 558 Todesopfer, viele von ihnen Zivilisten, mindestens 50 Kinder sowie tausende Verletzte.
Zehntausende flohen nach israelischen Warn-SMS aus dem Süden des Landes. Darin hieß es, man bombardiere auch zivile Ziele, dahinter verstecke sich schließlich die Hisbollah. Eine Argumentation, die an den Krieg gegen Gaza erinnert. Israels Generalstabschef Halevi erklärte, man bereite den Einmarsch von Bodentruppen in den Libanon vor.
Südbeirut, am Dienstag, den 17. September 2024:
Ein Mann in einem Supermarkt schaut sich Gemüse an. Plötzlich reißt ihn eine Explosion an seiner rechten Seite nieder. Die umstehenden Menschen in Schockstarre. Der Mann liegt blutüberströmt und schreiend auf dem Boden.
Er ist an diesem Tag kein ›Einzelfall‹. Im ganzen Libanon und Teilen Syriens explodieren am 17. September zeitgleich tausende ›Pager‹. Das sind Funkmeldeempfänger aus den späten 90er Jahren, die im Libanon besonders unter Mitgliedern der Hisbollah (Partei Gottes) verbreitet sind.
Die Hisbollah ist eine Massenorganisation, die im Kampf der libanesischen Schiiten gegen die israelische Besatzung zwischen 1982 und 2000 entstand. Sie ist neben ihrem militärischen Flügel auch eine große zivile Partei, die eigene Schulen, Krankenhäuser und andere Infrastruktur unterhält.
Insgesamt töteten die Explosionen ein Dutzend Menschen und verletzten circa 3000 Libanesinnen und Libanesen. Ein zehnjähriges Mädchen stirbt durch die Explosion an ihrem ersten Schultag.
Obwohl sich offiziell niemand zu dieser mutmaßlichen Geheimdienstoperation bekannt hat, deutet alles auf den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad (Die Agentur) hin. Dem derzeitigen Kenntnisstand zufolge wurden die Pager vorab mit Sprengsätzen präpariert.
Auf den Anschlag am Dienstag folgte am Mittwoch im Libanon die nächste Welle von Explosionen mit Dutzenden Toten und vielen Verletzten. Dieses Mal betroffen: Handfunkgeräte, sogenannte Walkie-Talkies.
Sollten sich die Vermutungen praktisch aller Analysten bestätigen und Israel für die Sprengung der Kommunikationsgeräte im Libanon verantwortlich sein, fällt einem hierfür nur ein Wort ein: Staatsterrorismus.
Es bleiben die Fragen: warum so und warum jetzt? Schließlich gab es ja schon seit langem ›normalen‹ Raketenbeschuss und gezielte Tötungen durch die israelische Luftwaffe.
Spaltung der libanesischen Gesellschaft
Natürlich schränkt die Sprengung der Pager und Funkgeräte die militärischen Kapazitäten der Hisbollah ein. Vor allem aber wird mit solchen Angriffen in aller Regel ein Ziel verfolgt: Verunsicherung der Bevölkerung. Libanesinnen und Libanesen haben mittlerweile selbst vor ihren Mobiltelefonen Angst.
Über die Angst, mit der Hisbollah assoziiert zu werden, forciert Israel die Spaltung der libanesischen Gesellschaft. Der Libanon ist sozial, konfessionell und politisch vielfältig. Schon bei Israels Invasion 1982 hatten sie Verbündete vor Ort: mehrheitlich christliche, faschistische Milizen. Bis heute bricht der Kampf um Vorherrschaft regelmäßig wieder auf.
Die Israelis bemühen sich mit ihren Terroranschlägen ihre ehemaligen Verbündeten nicht zu treffen. Zeitgleich versuchen sie, in der Breite der Gesellschaft Panik zu verbreiten.
So soll die Hisbollah nicht nur militärisch geschwächt, sondern vor allem auch ihr Rückhalt in der Bevölkerung reduziert werden – Verbündete Israels innerhalb des Libanons machen seit langem den Widerstand der Hisbollah gegen Israel für den desolaten Zustand des Landes verantwortlich.
Israels Regierung will den Regionalkrieg
Die Entwicklungen der vergangenen Tage verdeutlichen: Israel will die Eskalation mit der Hisbollah und einen Krieg im Libanon. Offizielles Kriegsziel ist es, die Bewohner Nord-Israels wieder in ihre Häuser zurückzubringen – seit dem 7. Oktober 2023 sind viele Teile des Nordens aus Angst vor Raketen aus dem Libanon evakuiert worden.
De facto hat die neueste Verschärfung der Konfrontation allerdings zu noch mehr Evakuierungen geführt. Dabei gäbe es einen viel einfacheren und friedlicheren Weg.
Die Hisbollah macht ein Ende ihrer Operationen gegen Israel abhängig von einem Waffenstillstand in Gaza. Doch das ist offensichtlich eine unüberwindbare Hürde für Netanjahu. Einen Waffenstillstand sind ihm weder die israelischen Geiseln noch die Israelis im Norden wert.
Netanjahu braucht den Krieg, um an der Macht zu bleiben. Ein äußerer Feind hält die Reihen zusammen. Der Krieg schützt Netanjahu auch vor Gerichtsverfahren, die wegen Korruptionsvorwürfen auf ihn warten. Ein Zweifrontenkrieg ist zwar kostspielig, aber für den Machterhalt der israelischen Regierung wertvoller als eine Beruhigung der Lage und eine Aufarbeitung des 7. Oktober – oder gar ein Geiselaustausch, wie von der Hamas gefordert.
Darüber hinaus wird ein Krieg gegen die Hisbollah von weiten Teilen der israelischen Bevölkerung und der Mehrheit der Generäle befürwortet. Er passt auch in die Pläne der rechtsextremen Koalitionspartner der Regierung Netanjahus. Finanzminister Bezalel Smotrich träumt von einem Großisrael, das bis nach Saudi-Arabien im Osten reicht.
Sicher ist auch: Über einen Krieg gegen die Hisbollah, bei dem sich womöglich Iran einmischen könnte, zieht Israel seine westlichen Verbündeten wieder offen hinter sich. Weder die USA noch die NATO als Ganzes wollen auf den wichtigsten Brückenkopf des westlichen Imperialismus in der ölreichsten Region der Welt verzichten. Das Pentagon kündigte bereits die Entsendung eines zusätzlichen Flugzeugträgers an.
›Wertegeleitete‹ Außenpolitik der Bundesregierung
Die Solidarität der Bundesregierung mit Israel bleibt unverändert, trotz der Eskalation gegen den Libanon und des drohenden Einmarschs von Bodentruppen. Auf Fragen bei der Bundespressekonferenz vom 18. September, ob es sich bei der gezielten Sprengung von tausenden Geräten unter Zivilisten unabhängig vom Täter um Terrorismus handele, konnten sich weder das SPD geführte Kanzleramt, noch das von den Grünen geführte Auswärtige Amt zu einer Antwort durchringen.
Die Luftbombardements des Libanons durch Israel bewertet die Bundesregierung als ›Selbstverteidigung‹. Das Auswärtige Amt teilt die Auffassung des israelischen Kriegskabinetts, wonach die Hisbollah ihre Waffen in der zivilen Infrastruktur verstecke und insofern die Schuld an den gegen die libanesische Zivilbevölkerung gerichteten Angriffe trägt.
Schadenfreude statt Empathie
Journalisten, Politiker und Wissenschaftler überbieten sich derweil an Schadenfreude. Ein Artikel in der TAZ bezeichnete den Pager-Terrorangriff als »Glanzleistung« und »einfach genial«. Der Spiegel spricht von einer »raffinierten Attacke«. Ex-BND-Chef Schindler lobte den Angriff als »herausragende geheimdienstliche Operation«. Stefan Talmon, Völkerrechtler an der Universität in Bonn, erklärte den Zuschauern der Tagesthemen am 19. September, dass die Tötung von einem Dutzend und die Verwundung mehrerer tausend Zivilisten völkerrechtlich gedeckt sei.
Worauf diese Rhetorik abzielt, ist klar: Die deutsche Bevölkerung soll sich bereit machen, die Bilder, die wir seit dem 7. Oktober 2023 aus Gaza sehen, demnächst auch aus dem Libanon auf den Bildschirmen präsentiert zu bekommen.
Die Botschaft: In den vom Westen unterstützten Kriegen im Nahen Osten sind auf der anderen Seite letztlich alle Zivilisten irgendwie feindliche Kämpfer und damit legitime Ziele.
Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock nennt das »wertegeleite Außenpolitik«. Tatsächlich handelt es sich um den Versuch, die Opfer des westlichen Imperialismus zu entmenschlichen, indem man sie als Fanatiker und ›Islamisten‹ abstempelt.
Demonstration am 3. Oktober
Am kommenden Donnerstag werden in Berlin Zehntausende zu einer bundesweiten Friedensdemonstration unter dem Motto ›Nein zu Kriegen!‹ erwartet. Diese Mobilisierung ist hochwillkommen.
Die Forderung nach einem sofortigen Stopp aller deutschen Waffentransporte nach Israel und einen allumfassenden sofortigen Waffenstillstand im Nahen Osten muss im Zentrum der Proteste stehen.
Schlagwörter: Hisbollah, Libanon, Pager