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Ukraine von innen

International / 22. August 2024

Ein Land geprägt von Oligarchen, Klassenkampf und Repressionen

Obgleich wir seit über zwei Jahren ständig von der Ukraine hören, wissen wir doch nur sehr wenig über das Land. Alles was wir hören und sehen ist: Präsident Selenski. So wird der Eindruck erzeugt, die ganze ukrainische Bevölkerung stünde hinter dem Präsidenten. Tatsächlich stehen viele gegen die russischen Aggressoren. Doch das Land ist sozial gespalten und von Repression geprägt.

Selenskis Amtszeit ist im Mai 2024 abgelaufen. Er regiert nur noch mit Dekreten und dem Kriegsrecht. Bereits kurz nach Kriegsausbruch wurden 11 Oppositionsparteien in der Ukraine verboten, darunter eine mit 44 Sitzen im Parlament. Es wurde eine einzige Informationsplattform geschaffen, über die alle TV-Sender ihre Nachrichten beziehen. Faktisch herrscht Selenski allein mit einer kleinen Gruppe des Nationalen Sicherheitsrats.

Um die Zahl der kämpfenden Soldaten zu erhöhen, greift die Regierung in Kiew zu rabiaten Maßnahmen. Seit einigen Monaten werden Männer bis 60 Jahre gezwungen, sich der Musterung zu unterziehen. Wer den Kriegsdienst nicht antritt, riskiert 5 bis 10 Jahre Haft.

Die harschen Strafen halten viele nicht von der Fahnenflucht ab. In einem seltenen Bericht über die wahre Stimmung im Lande zeigte das ZDF-„Auslandsjournal“ in seiner Sendung vom 14. August, wie jeden Tag Dutzende, wenn nicht Hunderte vor dem Kriegsdienst aus dem Land zu fliehen versuchen – und wie die ukrainischen Behörden die Deserteure an der Grenze jagen.

Einmal gefangen, werden die Männer entweder inhaftiert, oder zwangsrekrutiert und als Kanonenfutter an die Front geschickt.

Kriminelle Strafgefangene hingegen kommen frei, wenn sie sich für die Front melden. Dies betrifft auch verurteilte Mörder. Bis Ende Mai lagen bereits 3000 Anträge aus den Gefängnissen vor, die von dem Angebot Gebrauch machen wollen; die ersten beiden Freigelassenen erklärten, sie wollten ihre Verwandten „an der Front rächen“.

Die einfache Wahrheit ist: Das ukrainische Regime ähnelt dem russischen Regime in vielerlei Hinsicht.

Herrschaft der Oligarchen

Die Ukraine ist ein Land, das zutiefst in Arm und Reich gespalten ist. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit 1991 verarmten die Masse der Lohnabhängigen, weil das Land einer marktwirtschaftlichen „Schocktherapie“ unterzogen worden ist. 1993 erreichte die Inflation einen Rekordwert von 9000 %. Einige Wenige aber profitierten. 2013 gab es zehn Milliardäre mit einem geschätzten Gesamtvermögen von 32,1 Milliarden US-Dollar. Diese sogenannten Oligarchen, untereinander in Clans verfeindet, bestimmen das politische Geschehen im Land.

Dagegen erhob sich Ende 2013 eine revolutionäre Bewegung. Auslöser war die Entscheidung des damaligen Präsidenten Janukowitsch, das von der EU angebotene Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben. 400.000 bis 700.000 strömten auf den Maidan-Platz in Kiew und besetzten ihn wochenlang trotz bitterer Kälte. Sie erhofften sich einen Lebensstandard wie im benachbarten Polen, wo die Durchschnittslöhne mehr als dreimal so hoch waren – und nach wie vor sind.

Ausverkauf und Militarisierung der Revolution

Es war der Hass auf soziale Ungleichheit, Korruption und Unterdrückung, die die Proteste anheizten. So ließ Janukowitsch im Februar 2014 Heckenschützen postieren, die über 100 Menschen erschossen und 2500 verletzten.

Die Bewegung hielt stand und stürzte das Janukowitsch-Regime. Doch die Konzentration auf das EU-Abkommen erwies sich als Sackgasse. EU-nahe Kräfte übernahmen die Regierungsgewalt. Die sozialen Hoffnungen lösten sie nicht ein.

Präsident wurde der einflussreiche Milliardär Poroschenko, Ministerpräsident der Rechtsanwalt Jazenjuk, der eine steile Karriere in der westeuropäischen Finanzwelt hingelegt hatte.

Beide lenkten die 2014 ausgebrochenen Konflikte mit den prorussischen Sezessionisten in der Ostukraine in militärische Bahnen. Ukrainischen Milizen wie „Ajdar“ und „Asow“, die mit SS-Runen auftreten, wurden in die abtrünnigen Landesteile geschickt, um die Sezessionisten in Luhansk und Donezk zu bekämpfen.

Es war ein Krieg von Faschisten gegen Faschisten. In Luhansk und Donezk hatten sich „Volksgouverneure“ an die Macht geputscht hatten, die der faschistischen Partei „Russische nationale Einheit“ (RNE) angehörten. Als die Nationalisten beider Seiten im Mai 2014 in Odessa aufeinandertrafen, brachte der ukrainische „Rechte Sektor“ 43 pro-russische Demonstranten um. Die Bundesregierung sah keine Veranlassung, die guten Beziehungen zu der neuen Kiewer Regierung infrage zu stellen.

Selenski: Darling des IWF

Präsident Poroschenko und Ministerpräsident Janzenjuk haben schnell abgewirtschaftet. Sie galten bald als notorisch korrupt. Der Schauspieler und Komödiant Selenski gewann die Wahlen im Frühjahr 2019 mit dem Versprechen, der Korruption ein Ende zu setzen.

Er legte sich mit einigen Oligarchen an, war aber zugleich der Lieblingskandidat des IWF. Selenski machte sich rasch daran, Staatsunternehmen zu privatisieren, staatseigene Ländereien zu verkaufen und Gewerkschaftsrechte zu beschneiden. Wenn Selenski durch einen Sieg im aktuellen Krieg gestärkt und zum autokratischen Herrscher aufstiege, hätte die arbeitende Klasse in der Ukraine nichts gewonnen.

Die andere Ukraine

In der Ukraine gibt es eine lange Tradition von Arbeiterkämpfen, die der nationalistischen und marktliberalen Logik der Herrschenden entgegenstehen. Ein Beispiel dafür bietet die Industriestadt Kriviy Rih im Zentrum des Landes, in der hauptsächlich russisch gesprochen wird.

Während der Revolution von 2014 stellte das Bergwerksunternehmen des Oligarchen Rinat Achmetow in Kriviy Rih paramilitärische Schlägerbanden auf, die die Demonstrierenden angriffen und Büros der Opposition in Brand steckten. Die Unabhängige Bergarbeitergewerkschaft bildete daraufhin eine Arbeitermiliz, die „Hundertschaft der Bergarbeiter“. Sie wurde zur Säule der Verteidigung der Revolution vor Ort und stellten Vertreter im zwölfköpfigen Maidan-Rat von Kriviy Rih.

Ähnliche Beispiele gibt es viele in der jüngeren ukrainischen Geschichte. Sie zeigen das Potenzial für eine geeinte und organisierte Arbeiterbewegung, die die nationalistische Spaltung in der Ukraine überwinden kann. Sie teilen die Interessen mit den russischen und weißrussischen Lohnabhängigen, die dem Nationalismus der eigenen herrschenden Klasse diametral entgegenstehen.


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