Kommentar
Das gab es noch nie: Friedrich Merz fiel bei der Kanzlerwahl in der ersten Runde durch. Ein Schock für die neue Koalition, Chaos drohte. In der Not wandte sich die Union an die Linke, um eine rasche Neuabstimmung durchführen zu können. Die Linke reicht Merz die Hand, und er konnte in einem zweiten Wahlgang den Schaden rasch begrenzen. Ein Ausrutscher? Mitnichten. Im März stimmten die Landesregierungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern die Verfassungsänderung für Aufrüstung im Bundesrat mit durch – dank der Zustimmung der mitregierenden Linken. Diese Episoden zeigen an, dass der Kapitalismus im Falle von Staatskrisen und Kriegen auf die Linkspartei zählen kann, meint Karl Naujoks.
Alle sind für Frieden. Doch was bedeutet das in Deutschland, wenn Russland die Ukraine angreift? Das Friedenssymbol fand sich nach dem Kriegsausbruch im Februar 2022 überall, selbst auf den Fußballfeldern der Bundesliga. Unklar nur, ob das die Zustimmung oder die Ablehnung zu Waffenlieferungen bedeuten soll.
Der Ukrainekrieg führte zum Auseinanderfallen der Linkspartei. Ein Teil um Sahra Wagenknecht positionierte sich gegen die Eskalationspolitik der NATO, gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und gegen Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland. Ein Jahr nach Kriegsausbruch mobilisierte sie in diesem Sinne zusammen Alice Schwarzer Zehntausende zu einer Demonstration nach Berlin.
Tage vorher demonstrierte der Berliner Linkspolitiker und Kultursenator Klaus Lederer für Waffenlieferungen und für Sanktionen. Auch in der Bundestagsfraktion fanden sich prominente Vertreter dieser Position, wie Dietmar Bartsch. Die Fraktion spaltete sich, Wagenknecht gründete mit dem BSW eine eigene Partei.
Lähmung
Die Lähmung der Linken in der Frage dauert an. Auf dem Bundesparteitag in Halle im Oktober 2024 brachten Teile der Linken Anträge ein, die eine Positionierung gegen die Unterstützung der Nato im Ukrainekrieg zum Inhalt hatten. Sie wurden vom neuen Bundesvorsitzenden Jan van Aken und der Parteiführung „wegmoderiert“. Am Ende blieb ein dünner Beschluss mit zwei Sätzen übrig, in dem das „Primat ziviler, nichtmilitärischer Lösungen“ beschworen wird, ohne auch nur die Ukraine oder Russland zu benennen.
Kurzum: die Linke duckt sich weg. Zum einen, weil in der Partei völlig entgegengesetzte, unvereinbare Positionen vertreten sind. Zum anderen, weil sie fürchtet, mit einer prinzipienfesten, antiimperialistischen Position an Unterstützung und Wählerstimmen einzubüßen.
Staat und Kapital
Die widerstreitenden Positionen und der Opportunismus in der Linken hängen eng mit ihrem Staatsverständnis zusammen. Karl Marx argumentierte: der Staat im Kapitalismus ist ein bloßer „Ausschuss der herrschenden Klasse“. Die bestehende Staatsmaschine könne daher von der arbeitenden Klasse nicht einfach übernommen und für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht werden – sie müsse „zerbrochen“ werden. An seine Stelle müsse ein ganz neuer Staat auf der Grundlage von Arbeitermacht in den Betrieben entstehen. Marx zog damit die Lehren aus der Revolution von 1871, als in Paris das erste Mal Werktätige die Macht übernahmen.
Die Linke sieht – anders als Marx – den Staat nicht als ein feindliches Gebilde. Für sie ist er vielmehr der Hebel, über den sie die Welt verändern will. In der Praxis beschränkt es sich darauf, möglichst viele Stimmen bei Wahlen zu erhalten. Und auf dieser Grundlage schließlich in Regierungen einzutreten.
Das Problem: Sie kann zwar rein theoretisch mitregieren – die eigentliche Macht hat sie deshalb noch lange nicht. Der Staat ist mehr als ein paar Hundert Abgeordnete. Er verfügt über streng hierarchisch geführte Gewaltapparate und eine nicht minder hierarchisch geführte Justiz. Weder Polizei, noch Armee, noch Gerichte unterliegen dem Zugriff gewählter Regierungen.
Der Kapitalismus lässt sich nicht „abwählen“. Das zeigt sich selbst bei den harmlosesten Beispielen. So haben in Berlin 2018 fast 60 % bei einem Volksentscheid für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne gestimmt. SPD-Bürgermeisterin Giffey erklärte, dass unter ihrer Führung dies nicht umgesetzt werde. Weder die Kampagne, noch die Linke verfügte über irgendwelche Hebel, um den Mehrheitswillen durchzusetzen – und das, obwohl die Linkspartei Teil der Regierung Giffey war!
Loyalität
Die wirtschaftliche, wie die reale politische Macht liegt fest in den Händen des Kapitals und seiner Vertreter. Und die ziehen eine klare rote Linie: Im Krieg oder in der Vorbereitung auf einen Krieg zeigt sich die wahre Haltung einer Partei. Nur, wer im Krieg nach außen loyal ist, kann auch im Innern als loyal im Sinne der herrschenden Klasse angesehen werden.
Es gibt dabei eine Verbindung zur Herrschaft im Innern. Solange relativer sozialer Frieden herrscht, kann Die Linke gerne mit einem sozialen Wunschprogramm um die Ecke kommen. Das kann dann gegebenenfalls in Koalitionsverhandlungen, durch Medienkampagnen oder Urteile des Bundesverfassungsgerichts ausgehebelt werden.
Doch was, wenn der Staat im Innern durch Klassenunruhen bedroht sein sollte? Die Linke muss vorab beweisen, dass für sie die Stabilität des Staates, das heißt des deutschen Kapitalismus, die Bedingung sine qua non ist – eine unabdingbare, nicht antastbare Grundvoraussetzung.
Regierungsfähigkeit
Der Lackmustest ist die Haltung zum Gewaltapparat des Staates und dessen grundlegenden Interessen im Konflikt mit anderen Staaten. Das heißt zum Beispiel: Eine Partei, die die Mitgliedschaft in der Nato beenden will, ist „nicht regierungsfähig“.
Im Konflikt mit Russland führt die Ukraine einen Stellvertreterkrieg für die Nato und auch für Deutschland. Man darf „für Diplomatie“ sein und auch entsprechende Floskeln in die Präambeln von Koalitionsverträgen aushandeln. Es darf nur nichts Praktisches bedeuten.
Die Parteien der herrschenden Klasse erwarten von der Linkspartei diesen Kotau. Und diejenigen in der Linkspartei, die mit ihnen verhandeln, wissen das.
Deshalb vollführen sie permanent einen Eiertanz: Gegenüber der eigenen Basis wird routinemäßig das friedenspolitische „Profil“ betont. Aber an den Hebeln der Macht wird in entscheidenden Momenten Staatstreue bewiesen: Durch Abstimmungen im Sinne der herrschenden Klasse – und des deutschen Imperialismus.
Das erklärt, warum die Linksfraktion im Oktober 2023 im Bundestag geschlossen mit allen anderen Parteien für einen Antrag gestimmt hat, der sich hinter Israel und die Bombardierung des Gazastreifens stellte. Heute, nachdem die Konsequenzen dieser Politik deutlich werden und die Stimmung in der Bevölkerung gegen den israelischen Krieg gekippt ist, positioniert sich die Partei auf dem ungefährlichen Terrain der humanitären Hilfe – ohne dabei offen die Doktrin von Israels Sicherheit als deutscher Staatsräson infrage zu stellen.
Das erklärt auch, warum die Linke als Regierungspartei in Mecklenburg-Vorpommern und Bremen im Bundesrat für die massive Aufrüstung gestimmt hat, während sie als Oppositionspartei im Bundestag dagegen war.
Freundliche Gesten gegenüber Merz
Unverhofft hat sich ausgerechnet zur Kanzlerwahl von Friedrich Merz eine neue Episode dazugesellt, die ein Schlaglicht auf die zugrundeliegende Staatstreue der Linkspartei wirft. Nachdem CDU-Kandidat Merz aus den eigenen Reihen im ersten Wahlgang torpediert wurde, war die CDU/CSU plötzlich auf Die Linke angewiesen, um rasch einen zweiten Wahlgang durchzuführen. Anderenfalls hätte Merz laut Geschäftsordnung drei Tage warten müssen.
Nach Verhandlungen reichte die Fraktionsspitze der Linken Merz die Hand und stimmte in einem gemeinsamen Antrag mit CDU/CSU, SPD und Grünen, um einen umgehenden zweiten Wahlgang möglich zu machen.
Aus der beschränkten Binnensicht im Bundestag mag das Sinn ergeben: Schließlich würde die AfD womöglich drei Tage medienwirksam feixen können, und am Ende käme Merz ja doch durch. Doch aus der größeren Perspektive zeigt sich ein ganz anderes Bild.
Merz‘ Bauchklatscher im ersten Wahlgang war ein Schock und sandte ein verheerendes Signal nach außen. Die Antrittsbesuche von Merz in Paris und Warschau drohten verschoben werden zu müssen. Der deutsche Staat, der sich als Vormacht in Europa präsentieren will, hat sich selbst düpiert.
Mit der großzügigen Geste gegenüber dem Klassenfeind hat Die Linke das Image eines Kanzlers geschont, der in den Monaten zuvor erst mit der AfD ein rassistisches Gesetz zur Begrenzung des Familiennachzugs durchstimmen wollte, und dann mit SPD und Grünen im Hauruckverfahren eine Verfassungsänderung für Aufrüstung ohne Grenzen durchgesetzt hat.
Insofern war die Episode mehr als eine Anekdote: Es war eine Übung. Mit ihrem Verhalten hat Die Linke der CDU/CSU und damit der führenden Partei des Kapitals gezeigt, dass auf sie in Staatskrisen Verlass ist, selbst wenn diese nur unbedeutend klein sind.
Linke Basis
All das heißt nicht, dass das Bekenntnis der Partei zu Frieden und sozialer Gerechtigkeit irrelevant wäre. In die Linkspartei sind in den letzten Monaten Zehntausende eingetreten. Sie hat bei den Bundestagswahlen überraschend gut abgeschnitten. Die Millionen haben die Linke nicht gewählt, weil sie von ihr Signale der Kooperation in Richtung Merz wünschen. Sondern weil sie auf soziale Verbesserungen hoffen. Sie erwarten von der Partei Widerstand gegen Rassismus und Aufrüstung.
Das ist gut so – denn diese Hoffnungen sind die Voraussetzung, um überhaupt zu kämpfen. Es kommt darauf an, an diese Hoffnungen anzuknüpfen, gemeinsame Aktionsfelder zu suchen – und zugleich geduldig die Gründe für immer neuen Enttäuschungen zu erklären. Auf dieser Grundlage lässt sich eine revolutionäre Alternative aufbauen.
Schlagwörter: Krieg, Linkspartei, Merz, Staat