Ukrainekrieg: Katalysator für den neuen deutschen Imperialismus
Als Bundeskanzler Scholz vor zwei Jahren ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verkündete, gab es begeisterte stehende Ovationen: von der CDU/CSU. Seitdem überbieten sich Sozialdemokraten, Grüne und Konservative mit Forderungen nach Aufrüstung und Waffenexporten in die Ukraine. Schließlich soll nun auch die Wehrpflicht kommen. Es ist Zeit, dem neuen deutschen Imperialismus den Kampf anzusagen, meint Karl Naujoks.
Wie sich die Zeiten ändern. Im Jahr 2010 sagte Bundespräsident Horst Köhler auf dem Rückweg aus Afghanistan zu einem Journalisten, dass angesichts der Außenhandelsorientierung Deutschlands „im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“.
Es hagelte Kritik. Der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, verglich Köhlers Äußerungen mit „historischer Kanonenbootpolitik“ – also der militärischen Erpressungspolitik imperialistischer Staaten. Mit der Rechtfertigung bewaffneter Außenhandelspolitik stünde Köhler nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Selbst führende Konservative bezeichneten Köhlers Ausführungen als „missverständlich“, die Springer-Zeitung Welt als „präsidialer Fehltritt“. Köhler trat daraufhin zurück.
Aufrüstung für Krieg mit Russland
Und heute? Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sprach im Bundestag im vergangenen Jahr gleich zweimal davon, Deutschland müsse zum „Krieg ertüchtigt“ werden. Reaktion: null.
Da wurde er noch deutlicher: Im Dezember erklärte er, wir hätten „noch 5 bis 8 Jahre“… bis zu einem möglichen Krieg mit Russland. Der Sozialdemokrat Pistorius wird dafür von der BILD-Zeitung gefeiert.
Dieses Bedrohungsszenario wird für eine Aufrüstung beispiellosen Ausmaßes genutzt. Für das laufende Jahr hat Deutschland der NATO geschätzte Militärausgaben von 90,6 Milliarden Euro gemeldet. Ein absoluter Rekord.
Die Grünen unterstützen das – und wollen Pistorius noch übertrumpfen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck besuchte im April die Ukraine, in Begleitung von Managern mehrerer Rüstungsunternehmen. Danach forderte er einen deutlichen Ausbau der Waffenproduktion in Deutschland. Habeck erklärte: „Wir müssen auch die Wehrindustrie in Deutschland höher skalieren.“ Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sei es jetzt, „Rüstungsindustrieminister“ zu sein.
Dies sei insbesondere für die weitere Unterstützung der Ukraine wichtig. Und wenn diese die Waffen und Munition nicht mehr benötige, könne die Bundeswehr sie gut brauchen. Habeck forderte, Deutschland müsse bei der Aufrüstung der Ukraine allen anderen „vorangehen“.
Trauma des verlorenen Weltkriegs
Man kann die Dramatik der aktuellen Wende nur verstehen, wenn man den Blick historisch weitet. Der Ukrainekrieg ist der willkommene Anlass für den deutschen Kapitalismus und seine politischen Vertreter, endlich das Trauma des verlorenen Weltkriegs abzuschütteln.
Der einstige CSU-Vorsitzende und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß hatte es bewusstester Vertreter des deutschen Imperialismus in den 60er Jahren so formuliert: Deutschland sei „wirtschaftlich ein Riese, aber politisch ein Zwerg“. Letzteres hieß: Aufgrund der deutschen Teilung und als Folge der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war die Bundesrepublik nicht zu eigenständigen militärischen Aktivitäten in der Lage.
Das Grundproblem lag für die Bundesregierung auch darin, dass die deutsche Bevölkerung nach Überwindung des Kalten Krieges nicht daran dachte, wieder Krieg zu führen. Alles Militärische war zutiefst unpopulär. Als die Kohl-Regierung versuchte, sich 1991 an dem US-Krieg gegen den Irak zu beteiligen, brach dagegen eine Massenbewegung aus unter dem Motto „Kein Blut für Öl“.
Folge: Die Bundeswehr war mit einer nie dagewesenen Welle von Widerstand konfrontiert. Es gab Soldatenversammlungen, in denen gegen die Entsendung ins Kriegsgebiet abgestimmt wurde. Unter den 400 Soldaten des damals in Bremervörde stationierten Flugabwehrraketengeschwaders 36, das zu Teilen in die Türkei verlegt werden sollte, reichten einige Dutzend Anträge auf Kriegsdienstverweigerung ein.
Schritt für Schritt an Krieg gewöhnen
Die von der CDU/CSU geführte Bundesregierung versuchte nach der Wiedervereinigung von 1990 alles, um diese antimilitaristische Stimmung zu überwinden. Ziel war es, die Bundeswehr wie die Streitkräfte Frankreichs oder Großbritanniens an militärischen Aktivitäten außerhalb des NATO-Bündnisgebietes zu beteiligen und zu befähigen.
Ein erster Schritt war die Entsendung der Deutschen Marine in die Adria 1992, um in Patrouilleneinsätzen der NATO ein Embargo gegen Serbien durchzusetzen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hielt im Interview dem damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) vor, dass „weder die Bürger noch die Bundeswehr auf solche militärischen Ausflüge vorbereitet“ seien. Rühe antwortete: „Das ist ja meine These. Deswegen müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Es geht auch nicht nur darum, die Soldaten, sondern die ganze Gesellschaft auf diese neuen Aufgaben vorzubereiten.“
Die von Rühe angekündigte Vorgehen, sich per Salamitaktik scheibchenweise einem vollumfänglichen Kriegseinsatz zu nähern, wurde in den folgenden Jahren systematisch umgesetzt. Auf viele kleinere, ungefährliche Einsätze wie im Hinterland Somalias 1993/94 folgte schließlich die Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999, die Beteiligung am Afghanistan-Krieg ab 2001 und zahlreiche weitere militärische Einsätze in Afrika und dem Nahen Osten bis 2022.
Einsätze auf der halben Weltkugel
Die Bundeswehr wurde zu einer „Armee im Einsatz“. Heißt: Die teure und ineffektive Wehrplicht wurde vor zehn Jahren ausgesetzt, um einer Professionalisierung der Truppe Platz zu machen. Es wurden Eliteeinheiten wie die Quick Reaction Forces oder das Kommando Spezialkräfte (KSK) geschaffen. Statt der Orientierung auf Landesverteidigung gegen Russland mit Hunderten Panzern wurde ein Einsatzführungskommando bei Potsdam geschaffen, das alle Auslandseinsätze von Deutschland aus koordiniert.
Die Bundeswehr erhielt eine Cyber-Streitmacht, Militärsatelliten, Drohnen unterschiedlicher Art. Marine-Einsätze fernab der Heimat im Indischen Ozean wurden durch die Bereitstellung drei moderner Einsatzgruppenversorger ermöglicht, die Kampfschiffe bis zu 45 Tagen unabhängig von einem Hafen mit Kraftstoff und Öl, Frischwasser, Proviant, Munition und anderen Nachschubgütern versorgen können.
Zeitenwende zur imperialistischen Führungsmacht
Bis 2022 war die Bundeswehr dabei stets eine Armee, die im „Huckepack“ mit anderen funktioniert hat. In Afghanistan führte sie nach 2001 Krieg im Windschatten der US-Armee, in Mali nach 2013 auf Einladung von Frankreich. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Gelegenheit gekommen, selbständiger zu agieren. Der neue deutsche Imperialismus will nun eine Führungsrolle einnehmen.
Beispiel Niger: Dort, südlich der Sahara, ist die US-Armee jüngst nach einem russlandfreundlichen Putsch gegangen. Pistorius hat für Deutschland den Verbleib eines Luftwaffenstützpunktes ausgehandelt.
Beispiel Litauen: Bislang bestanden Auslandseinsätze der Bundeswehr darin, dass die Soldatinnen und Soldaten vier Monate in einen gut bezahlten Einsatz nach Afghanistan und anderswo gegangen sind. Nun stationiert die Bundeswehr 4800 Soldatinnen und Soldaten in Litauen an der Grenze zu Russland dauerhaft. Sie bleiben für Jahre, mitsamt Familien, so wie im Kalten Krieg die Westalliierten und Russland in den Besatzungszonen West- und Ostdeutschlands.
Drohungen gegen Russland
Wohin führt all das? SPD und Grüne versprechen uns wie die Konservativen, dies würde den Frieden sichern. Das Gegenteil ist der Fall. Deutschland ist Teil eines gigantischen Rüstungswettlaufs, der die Unsicherheit auf der Welt massiv steigert. So wie die russische Rüstung auf Deutschland aggressiv wirkt, so ist es umgekehrt ebenso.
Dies verdeutlicht beispielsweise ein aktueller Antrag im Bundestag, in dem die CDU/CSU-Fraktion den Aufbau einer auf die Belange von Luftwaffe, Landstreitkräften und Marine abgestimmte Drohnenarmee als „ersten wichtigen Schritt für eine kriegstüchtige Bundeswehr“ fordert. Im Personalumfang und Struktur solle sich an den Erfahrungen der ukrainischen Streitkräfte orientiert werden.
Ziel, so heißt es, sei die „Aufklärung, Führung und Wirkung zur Bekämpfung von strategischen Zielen in der Tiefe des Gegners“, sowie „zur Bekämpfung des Gegners an der Front und in der Tiefe des Raumes gegen Nachschub, Depots, Bunker und Kritische Infrastruktur“.
Mit anderen Worten: Eine deutsche Drohnenarmee mit Tausenden Fluggeräten soll explizit gegen die russische Armee, aber auch gegen die Wirtschaft und Infrastruktur wie zum Beispiel Bahnhöfe und Kraftwerke tief in Russland selbst wirksam werden.
Kostenexplosion
Die Aufrüstung und die Vorbereitung des Krieges gegen Russland lässt die Bundesregierung sich etwas kosten. Allein der Finanzbedarf für benötigtes Großgerät wie Kampf- und Schützenpanzer und weitere Rüstungsinvestitionen für die Brigade in Litauen beziffert das Verteidigungsministerium auf sechs bis neun Milliarden Euro. Wenn die Brigade in Litauen einsatzbereit ist, fallen zudem voraussichtlich jährliche Betriebskosten in Höhe von 800 Millionen Euro an.
Das „Institut der deutschen Wirtschaft“ hat ausgerechnet, dass ab 2027 eine Finanzierungslücke von mehr als 30 Milliarden Euro droht, wenn Scholz wie versprochen das Zwei-Prozent-Ziel der Nato einhalten will.
Im aktuellen Haushaltsstreit fordert Pistorius schon einmal 6,7 Milliarden Euro mehr. Finanzminister Lindner ist bereit, das Geld zu bewilligen, wenn „gegenfinanziert“ wird. Heißt: An anderer Stelle gespart wird. Die Konsequenzen sind sinkende Reallöhne im öffentlichen Dienst, Rücknahme dringender ziviler Infrastrukturprojekte, Sozialabbau. Sie rüsten auf – wir sollen zahlen.
Illustration: CharoN. von Teufelsgraben 30.6.2024
Zwangsdienst für Konzerninteressen
Für einen Krieg gegen Russland braucht es mehr Leute als für die Auslandseinsätze der Vergangenheit in Afghanistan oder Mali. Deshalb gibt es eine Kampagne für die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht.
Dass Verteidigungsminister Pistorius nun 600.000 junge Leute pro Jahr anschreiben will, um sie für die Bundeswehr zu motivieren, haben die Konservativen als halbherzig kritisiert. Tatsächlich ist es nur der erste Schritt zur Wehrpflicht. Denn um diese wiedereinzuführen, müssen erst die Kreiswehrersatzämter und andere Voraussetzungen geschaffen werden.
Pistorius hat es so formuliert: Erst kommt die Musterungspflicht, die soll zunächst 10.000 Rekruten pro Jahr extra bringen. In fünf Jahren dann kommt dann gegebenenfalls die Wehrpflicht, wenn es nicht ausreicht.
Wehrpflicht bedeutet einen Zwangsdienst an der Front für die Profitinteressen der deutschen Konzerne. Wehrpflicht bedeutet die Gefahr, dass die Söhne und Töchter dieses Landes für diese Interesse ihre Gesundheit oder ihr Leben lassen – oder die Söhne und Töchter russischer Familien töten. Beides ist nicht hinnehmbar. Der Widerstand gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht – wie gegen die Aufrüstung insgesamt – steht im Zentrum des Kampfes gegen den nächsten Krieg.
Dieser Kampf verbindet uns nicht nur mit den Lohnabhängigen in den anderen NATO-Staaten, sondern auch mit jenen in Russland oder China. Denn jeder Erfolg gegen Aufrüstung und Wehrpflicht hierzulande ermutigt die Unterdrückten und Ausgebeuteten auf der anderen Seite, gegen ihre eigenen Herrscher zu rebellieren.
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