Fast 300 Seiten ist der Bericht von Amnesty International zur Lage im Gazastreifen dick. Das Urteil ist unzweideutig: Die israelische Regierung hat die »Absicht«, die palästinensische Bevölkerung »physisch zu vernichten«. Der Bericht rüttelt jeden auf, der so etwas wie Mitleid kennt – doch die Bundesregierung zieht es vor, ihn zu ignorieren.
Von Yahya Abu Nidal
Schon vor fast drei Jahren stellte Amnesty fest: In Israel herrscht Apartheid. Heute wiegt der Vorwurf schwerer: Israel begeht einen Genozid in Gaza. So lautet das Fazit eines fast 300 Seiten langen Berichts von Amnesty International.
Er beginnt mit einem Zitat aus dem Mai 2024:
»Hier in Deir al-Balah ist es wie in einer Apokalypse … Man muss seine Kinder vor Insekten und der Hitze schützen, und es gibt kein sauberes Wasser, keine Toiletten, und gleichzeitig hören die Bombenangriffe nie auf. Man fühlt sich hier wie ein Untermensch.«
Auf der Webseite der Organisation fasst Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, den Bericht zusammen: »Der Bericht von Amnesty International zeigt, dass Israel Handlungen begangen hat, die nach der Konvention zum Völkermord verboten sind, und zwar mit der konkreten Absicht, das palästinensische Volk in Gaza zu vernichten. Zu diesen Handlungen gehören Tötungen, schwere körperliche oder seelische Schäden und die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza, die ihre physische Vernichtung herbeiführen sollen. Monat für Monat behandelt Israel die palästinensische Bevölkerung in Gaza menschenunwürdig, als verdienten sie keine Menschenrechte oder Menschenwürde, und demonstriert damit ihre Absicht, sie physisch zu vernichten.«
Fazit der Generalsekretärin ist: Waffenlieferungen an Israel müssen beendet werden. Ansonsten machen sich Staaten am Völkermord mitschuldig.
Bundesregierung zeigt sich unbeeindruckt
Die Forderungen der Menschenrechtsorganisation stehen in starkem Kontrast zur sozialdemokratisch geführten Bundesregierung und der deutschen Außenpolitik der grünen Außenministerin Annalena Baerbock.
Noch einen Tag zuvor, in der Regierungsbefragung am 04. Dezember, versprach SPD-Kanzler Olaf Scholz weitere militärische Unterstützung an Israel: »Wir haben Waffen geliefert und werden dies auch in Zukunft tun«. sagte Scholz in der Regierungsbefragung im Deutschen Bundestag. Gefragt hatte die CSU nach ausstehenden Munitionslieferungen. Sobald diese geliefert würden, werde man den Bundestag informieren, verkündete der Bundeskanzler.
Dabei forderten schon im August 2024 namhafte internationale Nichtregierungsorganisationen (darunter Oxfam, Pax Christi und andere) in einer weit verbreiteten Petition dazu auf sich erstens »entschiedener für einen sofortigen Waffenstillstand einzusetzen und den Schutz der Zivilbevölkerung einzufordern« und zweitens »alle Genehmigungen für den Export von Rüstungsgütern zu verweigern, wenn die Gefahr besteht, dass sie völkerrechtswidrig eingesetzt werden«.
Beides hat weder die Fortschrittskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vor ihrem Bruch noch die übrig gebliebene Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Grünen von ihrer Linie abgebracht.
Im Gegenteil: nachdem die Waffenlieferungen in Folge der Klage Nicaraguas vor dem Internationalen Gerichtshof seit dem Frühjahr zurückgegangen waren betonte Bundeskanzler Scholz schon in der in der Debatte des Bundestags zum Jahrestag des Angriffs der Hamas im Oktober: »Wir haben Waffen geliefert, und wir werden Waffen liefern«. Wohlgemerkt während fast zeitgleich die Weltöffentlichkeit einen Plan israelischer Offiziere und pensionierter Generäle diskutierte, der vorsah das nördliche Drittel des Gazastreifens abriegeln und so ca. 400 000 Palästinenserinnen und Palästinenser auszuhungern.
Haftbefehl gegen Netanjahu
Ungeachtet des stetig wachsenden internationalen Drucks scheint die Bundesregierung auf Biegen und Brechen an ihrer Linie der uneingeschränkten Unterstützung Israels festhalten zu wollen. Auch der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen des »Aushungern[s] von Zivilisten, Angriffe[n] auf die Zivilbevölkerung, Ausrottung und Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen« (Tagesschau 21.11.2024) rief zuletzt kaum eine Reaktion der Bundesregierung hervor. Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, teilte hierzu mit: »Die innerstaatlichen Schritte werden wir gewissenhaft prüfen.«
Die Bundesregierung ist mit dem Festhalten und ihrer uneingeschränkten Solidarität mit dem Verbündeten Israel, so offensichtlich die einhellige Meinung einiger der größten Menschenrechtsorganisationen weltweit, mitschuldig am Völkermord am palästinensischen Volk in Gaza.
Die gesellschaftliche Linke, die reformistischen Parteien und die Gewerkschaften die bisher noch keine klare Position gegen den Krieg und Waffenlieferungen bezogen sind jetzt an der Reihe: Eine klare Mehrheit der Bevölkerung trägt die Unterstützung der Bundesregierung für den israelischen Kriegskurs schon seit Monaten nicht mehr mit. Eine ebenso deutliche Mehrheit der Nichtregierungsorganisationen schließt sich der Analyse der Solidaritätsbewegung mit Palästina an: Israels Krieg ist Völkermord und muss enden. Die Bundesregierung darf ihn nicht weiter unterstützen.
Schlagwörter: Amnesty International, Gaza, Völkermord