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Wie dieses Land von Migrantinnen und Migranten aufgebaut wurde

Deutschland / Theorie & Geschichte / 23. Mai 2025

Im letzten Bundestagswahlkampf haben sich mal wieder fast alle Parteien mit Vorschlägen zur Begrenzung von Migration überboten. Der CDU-Spitzenkandidat und neue Bundeskanzler Merz versuchte sogar ein Gesetz zusammen mit der faschistischen AfD durchzubringen, das den Familiennachzug massiv einschränkt. Systematisch wird der Eindruck geschürt, Migration sei ein Problem, eine Belastung oder gar eine Gefahr. Das Gegenteil ist der Fall, meint Lukas Weber.

Verfolgt man die Debatten über Migration in den letzten Jahren, so entsteht schnell der Eindruck, ein unkontrollierter Zustrom von Menschen stelle den Staat und die Gesellschaft vor nahezu unlösbare Probleme. Im Herbst 2023 erklärte der damalige Bundeskanzler Scholz, man müsse jetzt „endlich im großen Stil abschieben“. Die neue Koalition will nun auf Druck von Kanzler Merz strengere Grenzkontrollen durchführen und den Familiennachzug beschneiden.

Alle scheinen sich einig zu sein: Migration muss dringend begrenzt werden – vor allem dadurch, dass man es den hier lebenden Migrantinnen und Migranten das Leben so schwer und unangenehm wie möglich macht. Dies würde „abschrecken“.

Dabei zeigt ein Blick auf die wirtschaftliche und soziale Realität in Gegenwart und Vergangenheit: Migration ist kein Problem, sondern oft Motor für gesellschaftliche Entwicklung.

Auch Deutschland ist in seiner Geschichte immer wieder von Einwanderung und der Integration neuer Gruppen geprägt worden.

Migration als Teil der deutschen Wirtschaftsgeschichte

Die arbeitende Klasse hat Deutschland aufgebaut – darunter ganze Generationen von Einwanderern. Sie kommen seit Jahrhunderten in großer Zahl nach Deutschland, wurden integriert und selbst zu Einheimischen.

So wanderten im 19. Jahrhundert hunderttausende Polen und Italiener ins Deutsche Kaiserreich ein. Im Ruhrgebiet allein lebten etwa 300.000 so genannte „Ruhrpolen“, wie sie damals genannt wurden. Diese Eingewanderten assimilierten sich rasch und wurden bald ununterscheidbarer Teil der deutschen Arbeiterklasse. Bei Namen wie „Kowalski“ oder „Nowak“ denken heute die wenigsten an „Ausländer“. Ohne sie wäre der Aufstieg des modernen Kapitalismus in Deutschland kaum denkbar gewesen.

Wirtschaftswunder und Vertragsarbeiter

Auch das sogenannte „Wirtschaftswunder“ im Westdeutschland der 1950er und 1960er Jahre hätte es ohne migrantische Arbeit nicht gegeben. Die deutsche Wirtschaft brauchte nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs dringend Arbeitskräfte, um den Wiederaufbau zu meistern und die Industrieproduktion zu steigern. Die Lösung war die Anwerbung von sogenannten „Gastarbeitern“ aus Süd- und Südosteuropa, insbesondere aus der Türkei, Italien, Griechenland und Jugoslawien.

Durch sogenannte Anwerbeabkommen kamen bis 1973 rund 14 Millionen Menschen zum Arbeiten nach Westdeutschland, etwas mehr als elf Millionen von ihnen gingen wieder in ihre Heimat zurück. Die Zahl der ausländischen Beschäftigten in der Bundesrepublik verneunfachte sich von 1960 bis 1973 – von gut 280.000 auf rund 2,6 Millionen.

In Ostdeutschland gab es das gleiche Phänomen. Es kamen Hunderttausende sogenannter Vertragsarbeiter aus Angola, Mosambik, Vietnam oder Algerien.

Diese Arbeitskräfte übernahmen oft die schwersten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten, die einheimische Arbeiter nicht mehr erledigen wollten. Sie zahlten Steuern, leisteten Sozialabgaben und trugen entscheidend zum Wachstum des gesellschaftlichen Wohlstands bei.

Doch anstelle von Anerkennung ernteten sie häufig Undank. Als 1973 in Westdeutschland die erste tiefe Wirtschaftskrise einbrach, und später 1989 die DDR zusammenbrach, machten rechte Kräfte und Medien wie die BILD-Zeitung die „Gast- bzw. Vertragsarbeiter“ zu Sündenböcken für die Krisenerscheinungen. Viele wurden aus Deutschland herausgedrängt.

Milliardenbeiträge für das Sozialsystem

Heute ist der Bedarf nach ausländischen Arbeitskräften auf einem Höchststand. Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften. Die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1970 scheiden nach und nach aus dem Erwerbsleben aus. Dadurch werden laut eines Berichts des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) allein bis 2035 voraussichtlich 7,2 Millionen Menschen weniger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Der Bericht geht davon aus, dass jährlich 400.000 Migrantinnen und Migranten zusätzlich in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden müssten, um die Lage zu stabilisieren.

Auch die Bundesregierung bestätigt dies. Sie konstatiert, dass im letzten Jahrzehnt der Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Jobs hauptsächlich auf Zugewanderte zurückzuführen ist. So gingen 60 % des Beschäftigungswachstums von 2013 bis Ende 2023 auf „Ausländer“ zurück; im Zeitraum von 2018 bis 2023 sogar 89 %.

Ohne die Arbeitsmigration wären die Sozialsysteme bedroht. Je 10.000 einwandernder Arbeitskräfte geht die Bundesregierung von Mehreinnahmen der Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 164 Millionen Euro aus.

Absurde Abschiebedebatten

Diese Fakten sind unbestritten. Und doch hören wir aus dem Lager der Bundesregierung fast immer nur von Abschiebungen. Die ganze Absurdität wurde deutlich, als Jens Spahn (CDU) am ersten Tag nach dem Fall des Assad-Regimes in Syrien die Ausweisung syrischer Flüchtlinge forderte.

Spahns Vorstoß war nicht nur menschenverachtend. Er ging auch völlig an der wirtschaftlichen Realität vorbei. Obgleich viele Syrerinnen und Syrer erst recht kurz in Deutschland sind, haben heute bereits rund 222.000 von ihnen in Deutschland einen sozialversicherungspflichtigen Job.

Das entspricht einer Beschäftigungsquote, die sich der normalen Quote annähert. Fast die Hälfte arbeitet als Fachkräfte. Gut jeder Zehnte ist ein qualifizierter Spezialist, z. B. Arzt. Gerade im Gesundheitssektor sind syrische Arbeitskräfte mittlerweile unverzichtbar.

Die Realität ist: Sollten wirklich massive Abschiebewellen durchgeführt werden oder sogar die sogenannte „Remigration“ von Millionen Menschen, von der die AfD träumt, dann würde die deutsche Wirtschaft völlig zusammenbrechen. Das wissen auch die Herrschenden in Politik und Wirtschaft. Aber ihre Haltung zu Migranten ist widersprüchlich.

Heuchelei: Anwerben und Ausgrenzen

Die zwiespältige Herangehensweise der Herrschenden an Migration zeigt sich in den sogenannten „Migrationsabkommen“, die die Bundesregierung seit einigen Jahren mit Staaten vor allem im globalen Süden abschließt. Dafür wurde 2023 eigens das Amt des Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen im Bundesinnenministerium eingerichtet. Die Abkommen dienen einerseits der schnelleren und vereinfachten Anwerbung von Fachkräften aus den Partnerländern und beinhalten andererseits Klauseln zur Wiederaufnahme von Migranten, die Deutschland abschieben möchte.

Ein besonderes Maß an Heuchelei zeigt sich bei den großen etablierten Parteien wie CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Während sie einerseits gezielt Anwerbeabkommen mit Ländern des globalen Südens schließen, um dringend benötigte Fachkräfte ins Land zu holen – sei es für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen oder die Bauwirtschaft – beteiligen sie sich zugleich aktiv an einer migrationsfeindlichen Rhetorik. Sie fordern mehr Abschiebungen, verschärfte Grenzkontrollen und schrecken nicht davor zurück, Migranten pauschal als kriminell und gefährlich darzustellen.

Diese Doppelstrategie dient allein der Absicherung kapitalistischer Interessen: Fachkräfte werden selektiv als ökonomisch verwertbare Ressourcen betrachtet, während andere Migrantinnen als Sündenböcke für gesellschaftliche Missstände herhalten müssen.

Die Kapitalisten wollen zwar die migrantischen Arbeitskräfte hier haben, aber sie wollen Solidarität zwischen einheimischen und eingewanderten Arbeitern durch rassistische Spaltung verhindern. Es ist eine klassische „Teile und Herrsche“-Taktik, die Solidarität unter den Lohnabhängigen untergräbt – zum Vorteil der herrschenden Klasse, die so den Widerstand gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder niedrige Löhne schwächt.

Arbeiterklasse: Nur gemeinsam stark

Wer gegen Migration argumentiert, verteidigt nicht die Interessen der arbeitenden Klasse in Deutschland, wie Sahra Wagenknecht meint, sondern die der Kapitalbesitzer. Denn nur diese profitieren von der Spaltung der Gesellschaft. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass die Lohnabhängigen nur gewinnen können, wenn sie sich nicht spalten lassen und gemeinsam für höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen kämpfen – unabhängig von Herkunft oder Nationalität.

Daher begrüßen wir alle Zugewanderten als Kolleginnen und Kollegen im Klassenkampf. Denn wir sind eine Klasse und nur gemeinsam stark.


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