Der erste Kongress zum jüdischen Antizionismus – ein Interview mit Wieland Hoban
Vom 13. bis 15. Juni fand in Wien der erste globale Kongress derjenigen Jüdinnen und Juden statt, die Israels Genozid gegen die palästinensische Bevölkerung ablehnen. Mit dabei: Wieland Hoban, Vorsitzender der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost.
RevoLinks: Wieland, Du warst Mitte Juni in Wien für den ersten Kongress zum jüdischen Antizionismus. Was war das Ziel der Veranstaltung?
Wieland Hoban: Der Kongress hatte zwei Ziele. Zum einen war es ein öffentlicher Appell, der Ideologie des politischen Zionismus nach über 100 Jahren ein Ende zu setzen, besonders angesichts des Genozids, der seit Oktober 2023 in Gaza stattfindet und der von israelischer militärischer Gewalt auch im Westjordanland, gegen den Libanon, Syrien, Jemen und nun auch Iran begleitet wird. Dass die Veranstalter und viele der Vortragenden jüdisch waren, sollte die Botschaft senden, dass es weltweit viele Jüdinnen und Juden gibt, die diese Kriege ablehnen und verurteilen. Zionismus ist nicht gleichbedeutend mit der jüdischen Identität oder Religion. Zum anderen bot es die Möglichkeit, sich zu vernetzen. Im Laufe der drei Tage des Kongresses waren rund 500 Besucherinnen und Besucher da. Am dritten Tag fanden mehrere Gruppenworkshops statt, bei denen über praktische aktivistische Maßnahmen gesprochen wurde.
Was waren die Themen?
Es gab mehrere Panels, jedes mit einem übergeordneten Thema und drei bis vier Teilnehmenden. Jüdische Referenten haben Themen wie Antisemitismus oder die Auslöschung arabisch-jüdischer Identität durch die Zwangsintegration von Jüdinnen und Juden aus der islamischen Welt in den europäischen Kolonialstaat Israel thematisiert. Daneben gab es auch palästinensische und andere Teilnehmende, die etwa über die Perspektiven des Widerstands, des Völkerrechts oder der staatlichen Bestrebungen sprachen. Der Kongress war von solidarischen und lebendigen Debatten geprägt.
Ist der Bezug auf einen spezifisch jüdischen Antizionismus nicht politisch einengend? Schließlich braucht die Befreiung Palästinas Unterstützung aus allen Teilen der Gesellschaft.
Nein, es besteht hier kein Gegensatz zur breiteren Bewegung. Wir greifen das Problem an, dass im Allgemeinen der Staat Israel und Judentum gleichgesetzt werden. Das ist falsch, denn der Staat Israel spricht nur für jenen Teil, der alles Jüdische in einen Gegensatz zum Recht der Palästinenser auf Leben und nationale Unabhängigkeit stellt.
Es gibt sehr, sehr viele Juden, die damit nicht einverstanden sind. Dennoch prägt die Verquickung von Judentum und Israel nicht nur die Politik der Bundesregierung oder der Medien, sondern nahezu alle kulturellen und religiösen Strukturen in der jüdischen Gemeinschaft selbst.
Es gibt kaum Synagogen oder jüdische Kulturinstitutionen, in denen eine konsequent antizionistische Haltung akzeptiert wird, geschweige denn üblich wäre. Das bedeutet, dass jüdische Antizionisten eine spezifische Aufgabe haben, die anderen Teilen der Bewegung nicht zufällt: Die jüdische Welt von innen zu dekolonisieren.
Wir wollen starke Formen jüdischen Lebens aufbauen, ob säkular oder religiös, die vom Zionismus befreit sind. Das ist der Teil, den jüdische Einzelpersonen oder Organisationen, etwa die Jüdische Stimme hier in Deutschland oder viele ähnliche Organisationen in der ganzen Welt, übernehmen können. Heute steht dabei die Befreiung Palästinas und die Zusammenarbeit mit Palästinensern im Zentrum, sonst würden wir in Identitätspolitik stecken bleiben.
Du hast die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost erwähnt, deren Vorsitzender Du bist. Vor wenigen Wochen wurde die Organisation im Verfassungsschutzbericht als „gesichert extremistisch“ eingestuft. Was bedeutet das für euch?
Offiziell gibt es dem Verfassungsschutz, also dem Inlandsgeheimdienst, Überwachungsbefugnisse bis hin zur Infiltration durch V-Leute. Allerdings ist seit Ende 2023 klar, dass Polizei und Geheimdienste sich ohnehin nicht an die Regeln halten und auch Aktivisten und Gruppen beobachten. Es gab Fälle, wo auch nicht „Eingestufte“ um 6 Uhr morgens mit einer Razzia zu Hause konfrontiert waren.
Die Einstufung als »extremistisch« soll einschüchtern und Willkürmaßnahmen rechtfertigen. Es ist schon verrückt, dass Juden von Nicht-Juden als „antisemitisch“ gebrandmarkt werden, ohne dass es die vermeintlich demokratischen Medien kümmern würde.
Da die verschiedenen Behörden sich untereinander austauschen, kann eine Einstufung auch in die Bearbeitung eines Einbürgerungsantrags einfließen, sofern es Kenntnisse über eine Mitgliedschaft oder eine Nähe zur Jüdischen Stimme oder Gruppen wie der Boykottkampagne BDS gibt. Insgesamt geht es um Isolierung. Wir hatten seitdem schon drei Veranstaltungsabsagen, die sich auf die Einstufung als „extremistisch“ bezogen. Unsere Gegner haben so ein weiteres Instrument.
Wie wird die Einstufung begründet?
Ein zentraler Punkt ist die Unterstützung der Kampagne BDS, die zum Boykott von Produkten aus Israel und das Ende jeder Zusammenarbeit mit Israel aufruft – nach dem Vorbild einer vergleichbaren Kampagne gegen das Apartheidregime in Südafrika in den 80er Jahren. Aber eigentlich reicht es auch schon aus, dass wir den Palästinensern das Recht auf Widerstand gegen Gewalt und Unterdrückung zusprechen. Für Innenminster, rechte Medien wie die BILD und auch Medien, sie sich für liberal halten, reicht das aus, um daraus den Vorwurf der „Terrorbefürwortung“ oder ähnliches zu konstruieren.
Die deutsche Israelpolitik zieht ihre moralische Rechtfertigung aus dem vermeintlichen Kampf gegen Antisemitismus. Ist es nicht absurd, dass gerade eine jüdische Organisation solchen Repressionen und Verleumdungen ausgesetzt wird?
Ja, natürlich. Und es zeigt, dass es gar nicht darum geht. Es geht um den Zionismus, das heißt, den systematischen Raub palästinensischen Landes und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung und dessen Legitimation durch die deutsche Politik. Es geht um sehr lukrative Waffengeschäfte mit Israel und um den geopolitischen Zugang zur nahöstlichen Region über das Bündnis mit der dort stärksten militärischen Macht, also Israel.
Nebenbei wird auch eine rassistische Migrations- und Abschiebepolitik gerechtfertigt. Palästinenser, aber auch allgemein gegen arabische und muslimische Migranten werden dem Pauschalverdacht ausgesetzt, sie seien „antisemitisch“. Es ist klarer denn je: Man muss überhaupt nicht jüdisch sein, um eine zionistische Agenda zu verfolgen. Da passen jüdische Antizionisten wie wir natürlich nicht rein. Deshalb wollen sie uns mundtot machen.
Die Verfolgung und Hetze, die Du beschreibst, führt oft zu willkürlichen Maßnahmen der Polizei auf Demonstrationen in Deutschland, besonders in Berlin. Der Palästina-Kongress, der vor gut einem Jahr in Berlin mit Unterstützung der Jüdischen Stimme und Revolutionären Linken stattfand, wurde von der Polizei gestürmt, abgebrochen und die Teilnehmenden herausgedrängt. War es in Wien ähnlich?
Überhaupt nicht, es war kein einziger Polizist zu sehen. Obwohl Österreich offiziell eine ähnlich proisraelische Ausrichtung wie Deutschland hat, und es teilweise auch Kriminalisierungsmaßnahmen gegen Aktivisten gibt, verhält sich der Staat viel weniger gewaltsam und autoritär. Das hat auch damit zu tun, dass Deutschland seit der Nachkriegszeit die moralische Legitimation der eigenen imperialistischen Politik aus der Unterstützung für Israel zieht.
Schlagwörter: Antisemitismus, Israel, Jüdische Stimme, Zionismus